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Heilender Protest: Die New Yorker Aktivistin Mary Powell während einer Blockade vor der Stadtverwaltung in Manhattan Ende Juni.
© William Volcov/imago

Warum #blacklivesmatter allen nutzt: Bewegung repariert die Demokratie

Identitätspolitik heißt es abfällig, Grüppcheninteressen. Nein, der Protest der Ausgeschlossenen hilft der Gesellschaft, sich zu erneuern. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Andrea Dernbach

Die Ära Corona ist gerade eine ganz schlechte Zeit zum massenhaften Protestieren, für politische Bewegung. Mit Sicherheitsabstand ist die Nähe, die es für gemeinsame Aktion braucht, nicht leicht herzustellen. 

Zugleich ist Corona eine ausgezeichnete Zeit dafür, schließlich beweisen Folgen und Bewältigung der Pandemie gerade, welches Maß an Disruption von jetzt auf gleich möglich ist, also wie rasch sich mit Routinen brechen lässt, die lange als unabänderlich galten, mit alten Formen der (Büro-)Arbeit.

Auch viele hochwichtige Meetings funktionierten als Videokonferenzen nicht übel.

Mittendrin in dieser Zeit zeigen sich neue Brüche, die mit der Pandemie höchstens insofern zu tun haben, als dass sie sie vertieft. Nach #blacklivesmatter in den USA redet auch Deutschland – nach einigem Zögern – vom hiesigen institutionellem Rassismus, also dem im System.

In den Medien fehlen viele Stimmen

Endlich sind die Stimmen von Schwarzen Expertinnen, Aktivisten, Organisationen zu hören. Und die ein oder andere Talkshow bewies durch ihre anfängliche Unfähigkeit, diese Stimmen aufzuspüren, dass sie für wesentliche Teile des Politischen und der Gesellschaft anscheinend keine Antennen und Expertise hat.

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Ein produktives Scheitern nebenbei, würden nicht nur Talkmasterinnen, sondern der Journalismus insgesamt es nutzen und einsehen, dass das bis zum Überdruss proklamierte Ethos „berichten, was ist“, zur Selbsttäuschung verführt. Weite Teile dessen, „was ist“, ist schlicht unbekannt, passt nicht ins Ressort - und Sendeschema oder in die eigenen sozialen Vorurteile, in die interne Themenhierarchie – ein Problem jedes Berufs – oder schlicht nicht auf die paar Seiten Zeitung.

Ein großer Kollege hat das einst mit einem schönen Apercu kommentiert: Wie gut, dass in der Welt immer nur so viel passiert, wie in die Zeitung passt.

Ein neuer Gesellschaftsvertrag ist nötig

Dabei sind die Stimmen der Anderen, des Dissens, des Protests viel mehr als Vertretung von Einzelinteressen, die auch an den Tisch der Etablierten wollen. In einem anregenden Buch – leider  jetzt auf Deutsch in sperrigem Nominalstil erschienen – argumentiert Donatella della Porta, Forscherin an der renommierten Scuola Normale Superiore in Florenz, dass soziale Bewegungen, progressive jedenfalls, Gesellschaften insgesamt voranbringen.

Sie reparieren, was falsch läuft in der Demokratie. Della Porta spricht vom „gebrochenen Gesellschaftsvertrag“ auch in weitgehend funktionstüchtigen Demokratien, wenn wie in den Jahrzehnten des herrschenden Neoliberalismus die Parlamente, die demokratisch legitimierten Volksvertretungen, ins Korsett angeblich alternativloser Marktlogiken und Sparvorgaben gezwungen werden – oder sich zwingen lassen – und auch linke Parteien nicht mehr gegensteuern und dadurch elementare Interessen der 99 Prozent unvertreten bleiben.

Polizei und Behörden arbeiten ohne Diskriminierung besser

Hier gelte es, „die grundlegende Beziehung zwischen Gesellschaft und Staat wiederherzustellen“,  schreibt sie. Und das passiere von unten. Sie nennt Irland, wo die Verfassung von Bürgern neu geschrieben wurde, Spanien und Bolivien, wo die Energie der Straße sogar in neue Parteien floss.

Für Deutschland ließe sich an Umwelt denken, die bis Mitte der 1980er Jahre weder in Bund noch Ländern ein Ministerium hatte, oder Migration, die – „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ – schlicht geleugnet wurde.

Der nächste neue Kontinent, den etablierte Politik entdecken muss, heißt Diskriminierung, Rassismus. Das ist kein lästiges Ärgernis, das man privat erleidet oder wegsteckt. Es ist politisch. Und politisch gemacht hat es das jahrelange beharrliche Engagement von Menschen aus diskriminierten Minderheiten.

Es wird ihnen am Ende hoffentlich ein Leben ermöglichen, wie es das Grundgesetz garantiert, in unangetasteter Menschenwürde. Aber ihr Engagement ist auch Institutionenmodernisierung. Behörden, die nicht diskriminieren, stärken das Vertrauen zum Staat, eine Polizei, die es mit ihrem internen Rassismus  aufnimmt, deeskaliert und bekommt bessere Ermittlungsergebnisse, weil sie Unschuldsvermutung und Verdacht nicht nach Hautfarbe sortiert.

Wie wäre es also, den Köpfen hinter Berlins Landesantidiskriminierungsgesetz, dem bisher einzigen in Deutschland, Bundesverdienstkreuze umzuhängen statt aufzuheulen, sie brächten das Abendland zum Einsturz? Das Gegenteil ist doch der Fall! Und Covid-19 sollte sowieso gelehrt haben, dass die Welt nicht untergeht, wenn alte Routinen fallen.

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