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Ein Meer von Sardinen bei einer Demonstration in Reggio Emilia. Vorn Mattia Santori, einer der vier Gründer der Bewegung.
© Guglielmo Mangiapane/Reuters

„Sardinen“-Protest in Italien: Eine junge Bewegung macht Salvini die Plätze streitig

Wo der Chef der rechtsradikalen Lega auftritt, kommen sie zusammen und protestieren gegen Salvini. „Die Sardinen“ sind die Politik der Populisten leid.

„Wir sind es leid, Dinge für normal zu halten, die nicht normal sind. Die Gewalt, den Hass“ sagt die junge Frau am Mikrofon. „Habt ihr Lust, die Nationalhymne zu singen? Um ihnen zu zeigen, dass sie nicht nur ihnen gehört, sondern uns allen?“

Dann schmettert Joy Temiloluwa Olayanyu, Schülerin am Marconi-Gymnasium von Parma, „Fratelli d’Italia“, und die etwa 7000 Menschen, die sie und ihre Klassenkameraden Martino Bernuzzi und Francesco Martino auf den Domplatz gerufen haben, stimmen ein.

„Die“, das ist Italiens Rechte, angeführt vom Chef der rechtsradikalen Lega Matteo Salvini. Gegen seinen Anspruch, das wahre Italien zu vertreten, tritt neuerdings eine junge Protestbewegung an; wo immer er auftaucht, sind sie auch. 7000 wie in Parma zu Wochenbeginn waren es auch am vergangenen Sonntag in Rimini und eine Woche vorher in Modena, unter den Tausenden in Palermo war auch Bürgermeister Leoluca Orlando, ein Antimafia-Veteran.

An diesem Samstag werden sogar 40.000 Gegendemonstranten in Florenz erwartet, wenn Salvini dort mit etwa tausend der Seinen offiziell die Kampagne für die Regionalwahlen in der Toskana im nächsten Frühjahr eröffnet.

Sie nennen sich selbstironisch „die Sardinen“ – Anspielung an die Konservendosenenge auf den Plätzen, aber auch auf den Zusammenhalt, die Lautlosigkeit und die Schnelligkeit des Fischschwarms, der seine Richtung auch ohne Führung findet.

„Liebe Populisten, die Party ist aus“

Der erste Schwarm formierte sich vor gerade einmal zwei Wochen: Auf den Aufruf von vier Freunden aus Bologna, alle zwischen 28 und 32 Jahre jung, kamen am 15. November spontan zwischen 12- und 20.000 Menschen auf die Piazza Maggiore, sangen und skandierten den Slogan, der inzwischen, unter wechselnden Städtenamen, auf allen Plätzen zu hören ist: „Bologna non si lega“ (Bologna fesselt sich nicht).

Was die Sardinen wollen, haben die vier inzwischen in einem kleinen Manifest festgehalten: „Liebe Populisten, die Party ist aus.“ Jahrelang habe die Rechte im Netz beleidigt, gehetzt und das Leben von Menschen zerstört. „Wir haben euch viel zu lange das Feld überlassen, weil wir überrascht und entsetzt darüber waren, wie weit ihr gingt.“ Dabei genüge es,  sich umzusehen, um zu entdecken, „dass wir viele sind und viel stärker als ihr. Ab jetzt findet ihr uns überall. Willkommen auf hoher See.“

In einem Interview erklärte Gründer Mattia Santori, die Sardinen wollten auch aus der Einsamkeit des virtuellen Lebens heraus. Ihre Flashmobs werden zwar über die sozialen Netze organisiert, aber „die Körperlichkeit auf den Plätzen, dass wir dicht beieinander stehen, ist wichtig“, sagt Santori.

Der Lega-Chef verliert Orte fürs Bad in der Menge

Die „Sardinen“ schwenken selbstgebastelte Fische aus Pappe oder Blech, sie stellen abgesehen vom Wortspiel des Anti-Lega-Slogans niemanden an den Pranger. Und sie singen: mal die National-, mal die antifaschistische Hymne „Bella ciao“, mal etwas aus dem regionalen Repertoire oder Lucio Dallas „Com'è profondo il mare“ (Wie tief das Meer ist).

Unter den Organisatorinnen viele Kinder aus migrantischen Familien, die sich als die ersten Opfer der „Italiener zuerst“-Parole der Lega sehen. Das Motto der Sardinen: Keine Parteisymbole, keine Fahnen, kein Hass. Und kein Inhalt, lautet bereits die Kritik an der Bewegung, sarkastische von rechts und besorgte von links.

Dem widersprach jetzt der Kommentator der linken Tageszeitung „il manifesto“. Indem die Sardinen die Plätze fluten, schrieb Marco Bascetta, nähmen sie Salvini das weg, was er so dringend brauche: die eigenen Massenbilder fürs tägliche Bad in der Menge. Und der britisch-italienische Historiker Paul Ginsborg seufzte im „Fatto quotidiano“, endlich tue sich wieder etwas im Land. Weltweit habe es 2019 eine stärkere demokratische Mobilisierung gegeben als 1968 oder in den europäischen Revolutionen von 1848. Nur Italien, auf dessen starke Protestbewegung in den 1970er Jahren ganz Europa bewundernd geschaut habe, sei bisher stumm geblieben.

Stimmt nicht, sagt Donatella della Porta. „Insgesamt gibt es in Italien sehr viel Bewegung“, meint die Soziologie-Professorin, die das Forschungszentrum für soziale Bewegungen an der renommierten Scuola Normale Superiore in Florenz leitet. „Aber sie ist sehr fragmentiert.“ Besonders stark sei die Frauenbewegung, die etwa dem ultrakatholischen und von der Lega unterstützten „Familienkongress“ in Verona massiven Widerstand entgegengesetzt habe.

Die Vorfahren der "Sardinen"

Die „Sardinen“, werden aktuell oft mit den „Girotondi“ verglichen, als vor allem Intellektuelle und Künstler auf die Straße gingen, um gegen Berlusconi für Rechtsstaat und Demokratie zu demonstrieren. Die Forscherin sieht eher Ähnlichkeiten mit der Bewegung gegen die Privatisierung des Trinkwassers wenige Jahre später: Sie wurde wie jetzt die Sardinen von lokalen Gruppen ohne politische Erfahrung getragen und gewann 2013 das Referendum gegen die Privatisierung.

Von den Girotondi blieb nichts und gerade zerbröseln auch die „Fünf Sterne“, die sich immer noch Bewegung nennen und es als erste Bewegung letztes Jahr sogar an die Regierung schafften.

Donatella della Porta warnt: „Man neigt dazu, sehr selektiv auf soziale Bewegungen zu sehen. Sie verändern sich rasch“ – und später oft die institutionelle Politik. „Bei Ihnen in Deutschland hat Merkel schließlich das Werk der Anti-Atombewegung durch den Ausstieg vollendet.“

Den Sardinen prophezeit sie kein langes Leben, dazu seien sie zu spontan im Umfeld der nächsten Regionalwahlen entstanden. Aber sie hätten bereits jetzt etwas geschafft: Den Auftakt zu einer „zivileren öffentlichen Debatte“.

Andrea Dernbach

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