Kundgebung am Brandenburger Tor: Aufstehen gegen Antisemitismus
Am Sonntag soll am Brandenburger Tor gegen Judenhass protestiert werden. Kanzlerin und Bundespräsident sind auch dabei. Aber wer sonst noch? Die Demo gegen Antisemitismus braucht viele Teilnehmer.
Alle werden sie am Sonntag um 15 Uhr zum Brandenburger Tor kommen. Der Bundespräsident, die Kanzlerin, Joschka Fischer, Vertreter der demokratischen Parteien und der großen Verbände, die obersten Kirchenrepräsentanten des Landes – und viele, viele Mitglieder der jüdischen Gemeinden aus dem ganzen Bundesgebiet.
Alle werden kommen? Nein, nicht alle. Für die Demonstration gegen Antisemitismus unter dem Motto "Steh auf! Nie wieder Judenhass!" hat der Veranstalter, der Zentralrat der Juden, nach Polizeiangaben 5000 Teilnehmer angemeldet. Ist das viel oder wenig? Im Sommer waren es gerade mal ein paar Hundert, die den Anti-Israel-Protesten, auf denen offen antisemitische Parolen gebrüllt wurden, demonstrativ etwas entgegensetzen wollten.
Was wäre die Teilnehmerzahl, die am Sonntag einen Erfolg bedeuten, die den verunsicherten Juden hierzulande zeigen würde, dass die Anständigen in Deutschland Antisemitismus nicht hinnehmen werden? 10.000, 15.000, 25.000? Oder umgekehrt: Was wäre, wenn es am Ende tatsächlich nicht viel mehr als die 5000 angemeldeten Teilnehmer sind?
Sicher ist, die Marke vom 9. November 2000 wird nicht erreicht werden, obwohl sich die offiziellen Gästelisten ähneln. Als der damalige Zentralratsvorsitzende Paul Spiegel seine denkwürdige Rede vor dem Brandenburger Tor hielt, kamen 200.000 Menschen. Der Unterschied? Die Demo vor 14 Jahren war ein "Aufstand der Anständigen" gegen Fremdenfeindlichkeit, die jetzt ist "nur" ein Aufstehen gegen Antisemitismus – einen neuen Antisemitismus, der sich aus dem Hass auf Israel speist, aber eben auch Teil Deutschlands ist.
Paul Spiegels Rede könnte dennoch genau so auch am Sonntag gehalten werden. "Ich bin überzeugt, dass die Mehrheit in diesem Land Rechtsradikalismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit ablehnt. Aber diese Mehrheit darf nicht länger schweigen, sie darf nicht länger wegschauen, sie darf nicht länger die Vorgänge in unserem Land verharmlosen."
Paul Spiegel hat den Deutschen vor 14 Jahren ins Gewissen geredet, viele berührt, manche auch irritiert. Mit Sätzen wie diesen: "Wir brauchen … deutliche Signale, dass die nicht jüdische Bevölkerung in ihrer Mehrheit uns und unsere jüdischen Gemeinden in diesem Lande haben will." Geblieben sind auch die Sätze: "Unsere Eltern haben sich nach dem schrecklichen Leiden entschlossen, hier wieder zu leben und jüdische Gemeinden zu gründen. Wir sind nach wie vor der festen Überzeugung, dass dieser Entschluss richtig und wichtig war."
"Gestaltung eines selbstbewussten jüdischen Lebens"
Wenn der Zentralratspräsident Dieter Graumann am Sonntag das Wort ergreifen wird, werden wieder viele berührt, aber manche auch irritiert sein. Vor allem dann, wenn er über die Sorgen der jüdischen Gemeinden in Deutschland spricht, vielleicht darüber, dass nicht wenige Gemeindemitglieder – mal wieder – darüber nachdenken, wo der Koffer verstaut ist. Der zur Ausreise nach Israel.
Graumann hat schon über den "blanken Judenhass" gesprochen, der auf deutschen Straßen in den vergangenen Wochen offen ausbrach, über die Anschläge auf jüdische Bürger und Synagogen – und darüber, dass man sich dennoch nicht einschüchtern lasse, sondern weiter "auf die Gestaltung eines selbstbewussten jüdischen Lebens in Deutschland" setze.
Warum werden manche irritiert sein? Weil sie die Sorgen übertrieben finden. Weil sie nicht verstehen wollen, warum es immer noch etwas Besonderes sein soll, das jüdische Leben in Deutschland. Dass die antiisraelische und antijüdische Stimmung zwar in anderen Ländern viel schlimmer ist, aber die Lage – auch die gefühlte – in Deutschland immer mit besonderer Aufmerksamkeit registriert wird. Und zwar weltweit.
Dabei wäre es doch so einfach! Die Berliner lieben Events, Massenaufläufe, Gedränge – und Promigucken. Am Sonntag um 15 Uhr wird es am Brandenburger Tor davon reichlich geben. Das könnte doch für den einen oder anderen eine bereichernde Unterbrechung des Sonntagsspaziergangs durch den Tiergarten sein.
Warum das wichtig wäre? Weil jüdisches Leben in Deutschland immer noch etwas Besonderes ist, etwas besonders Begrüßens-, aber auch Beschützenswertes. Weil es nicht reicht, wenn sich nur die politische und gesellschaftliche Elite offen dazu bekennt. Weil Mitbürger Sorgen haben, die man nicht teilen, aber ernst nehmen muss. Dieter Graumann wünscht sich eine "Geste des Herzens" am kommenden Sonntag. Es wäre schön, er würde sie bekommen – von möglichst vielen.