Organisierte Sterbehilfe: Auch die Kirche muss barmherzig sein
Der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider will seine kranke Frau auf dem Weg in die Schweiz unterstützen - zur organisierten Sterbehilfe. Der Fall zeigt: Es ist gut, wenn es im Bereich der Sterbehilfe Grauzonen gibt.
Sie sagt: Ich gehe. Er sagt: Ich gehe mit. Sie sagt: Ich gehe dahin, wo du nicht sein kannst. Er sagt: Wo du bist, kann ich sein. Das ist, aufs Äußerste reduziert, die Kernaussage zweier Interviews, die am Donnerstag dieser Woche in der „Zeit“ und im „Stern“ zu lesen waren. Gegeben wurden sie von Nikolaus Schneider, bis vor kurzem Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche Deutschland, und seiner Frau Anne Schneider, auch sie Theologin.
Es sind bewegende, ja, erschütternde Interviews. Weil sie die Unbedingtheit einer Liebe offenbaren, wie man sie selten erfährt. Und weil sie auf eine geradezu dramatische Weise zeigen, was geschieht, wenn Ideologie auf Wirklichkeit trifft: eine Verwandlung. Anne Schneider hat die Diagnose Brustkrebs bekommen, fortgeschrittener Zustand. Nun sagt sie: Wenn es so weit ist, gehe ich in die Schweiz. Zur organisierten Sterbehilfe. Und ihr Mann sagt, er werde sie auf dieser Reise begleiten, auch wenn er diesen Schritt aus seinen tiefsten theologisch-ethischen Überzeugungen ablehne. Nikolaus Schneider hat sich bisher immer vehement gegen Sterbehilfe ausgesprochen, war seit vielen Jahren ein besonders scharfer Kritiker. Diese Wende geht nicht nur zu Herzen, sie beschäftigt auch den Kopf.
Denn der Fall zeigt aufs Vortrefflichste das Wesen lebensschützerischer Dogmen. So hoch deren Ansprüche auch sein mögen – auf einmal kommt das Leben daher, ganz schnöde, ganz einfach, das normale Leben mit seiner normalen Sterblichkeit. Was macht da das Dogma? Es legt seine ganze Hilflosigkeit an den Tag. Und noch viel mehr: Auf einmal kommen in die Sterbehilfe-Debatte, die von vielen Kirchenleuten und Ärzten, aber auch von manchen Politikern und Juristen so lange mit einer anmaßenden Hartherzigkeit geführt wurde, neue Kategorien: die des Mitleids, der Barmherzigkeit, der Menschenfreundlichkeit. Ja, der Liebe. Und das war ja der Grundfehler aller bisherigen Debatten. Dass sich eine Ethik etabliert hatte, die meistens im Prinzipiellen verharrte und den Faktor Mensch darüber vergaß, verdrängte.
Todesängste und Verzweiflungen sind keine minderwertigen Beweggründe
Todesängste, Schmerzen und Verzweiflungen sind keine minderwertigen Beweggründe, die vor grundsätzlichen Erwägungen des Lebensschutzes zurückzutreten haben. Im Gegenteil, wer sie als gering einstuft, handelt nicht nur inhuman, sondern macht sich intellektueller Unredlichkeit schuldig. Eine Ethik ohne Menschlichkeit verdient den Namen nicht. Sie wäre Fundamentalismus. Genau deshalb ist es so schwierig, Sterbehilfe juristisch zu regeln. Weil eindeutigen Gesetzen der uneindeutige Mensch im Weg steht. Der Umgang mit dem Sterben führt oft in Zonen, die noch nie von den Menschen betreten wurden, die allzu genau wissen, was rechtens ist und was nicht. Die manchmal, wie etwa Kardinal Lehmann, selbst die Schmerzlinderung durch die Palliativmedizin beschränkt sehen wollen.
Darum ist es gut, dass es bei der Sterbehilfe Grauzonen gibt und immer gegeben hat. Wo endete die (erlaubte) passive Sterbehilfe, wo beginnt die (verbotene) passive? Und warum wird die so genannte indirekte überall akzeptiert, sogar vom Vatikan? Das sind schwierige Fragen, auf die es keine einfachen Antworten geben kann. Das Ehepaar Schneider hat sie neu angestoßen, weil sie es das Private öffentlich gemacht hat. Möge niemand sagen, die Schneiders verrieten wegen ihres persönlichen Schicksals eherne ethische Grundsätze. Sie haben sie vielmehr auf die richtigen Beine gestellt. Dafür ist ihnen zu danken.
Wolfgang Prosinger