Gedenkpolitik Zweiter Weltkrieg: 70 Jahre nach Kriegsende eskaliert der Streit um die Geschichtsbilder
Gemeinsames Gedenken an die Befreiung von der Nazi-Herrschaft am 8. und 9. Mai? Davon ist Europa weit entfernt. Polen, Balten und Ukrainer wehren sich zunehmend gegen Russlands Beharren auf einem kontrafaktischen Heldennarrativ. Ein Kommentar.
Die Geschichte trennt. Genauer: das Bild, das sich die Völker von ihr machen. Am 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz führte dies zu gespaltener Erinnerung. Am Ort des Geschehens gedachten Überlebende mit den Präsidenten Polens, Israels, Deutschlands und anderer Staaten; in Moskau ehrte ein einsamer Wladimir Putin die Rote Armee sowie sich und sein Land als deren Nachfolger.
Moskau oder Danzig?
Schon naht die nächste Klippe, der 70. Jahrestag des Kriegsendes. Putin möchte im Kreis möglichst vieler Staats- und Regierungschefs die traditionelle Siegesparade am 9. Mai in Moskau abnehmen. Nur: Wer mag in Zeiten des Ukrainekriegs Putin und seine Soldaten als Kräfte der Befreiung ehren? Auch da gibt Polen den Gegenpol. Präsident Komorowski lädt am 8. Mai nach Danzig ein. Wo 1939 die ersten Schüsse des Zweiten Weltkriegs fielen, solle man der Opfer gedenken und gemeinsam historische Lehren ziehen.
Gibt es einen Ausweg aus der Konkurrenz des Gedenkens? Einen Ort und eine Autorität, die alle Beteiligten nötigen, die Opfer in den Mittelpunkt zu stellen, statt das Datum für die aktuelle Politik zu instrumentalisieren oder die Rolle der eigenen Nation auf verfälschende Weise zu glorifizieren?
Gauck kann Putin schlecht nach Berlin einladen
Berlin wäre der authentische Ort. Hier wurde der verbrecherische Eroberungs- und Vernichtungskrieg geplant; hier endete er mit der bedingungslosen Kapitulation in Karlshorst.
Doch wer soll dazu einladen? Und wen alles? Und in welchem Geist? Schwer vorstellbar, dass Bundespräsident Gauck mit der Absicht einlädt, auf ein wahrhaftigeres Geschichtsbild zu dringen. Den Nachkommen der Täter steht das nicht zu. Allenfalls könnte das ein hoher Repräsentant der Europäischen Union tun, auf deutsche Bitte; denn diese EU ist die lebende Lehre aus den Kriegen.
Die nächste Klippe: Wie bindet man Russland ein? Kann man Putin zu einem Gedenken an die Überwindung des Kriegs einladen, während er in der Ukraine Krieg führt? Käme er überhaupt, wenn er nicht im Heldenschein der Roten Befreierarmee stünde?
Es ist erschreckend, wie hartnäckig sich nationale Geschichtsbilder der Europäisierung entziehen – obwohl der Zwang zur Blockteilung des Gedenkens überwunden ist. Seit 1989 ist die Diskrepanz zwischen den nationalen Sichtweisen noch gewachsen.
Russland war auch Täter, nicht nur Opfer
Nicht nur die Polen, sondern alle Völker, die zwischen Deutschen und Russen leben, revoltieren gegen das offizielle Narrativ der Kommunisten nach 1945. Sie haben schrecklich unter den Nazis gelitten. Doch deren Niederlage brachte für sie keine Befreiung, sondern neue Besatzung, neue Verfolgung, neue Lager. Zu Recht lehnen sie die Glorifizierung der Roten Armee ab. Stalin und die Sowjetunion waren gewiss auch Opfer in Hitlers Vernichtungskrieg. Aber sie gehörten schon 1939 zu den Tätern, die gemeinsam mit Hitler Europa aufteilten.
Zudem machen Ukrainer, Weißrussen, Balten und andere Nationen im Gebiet der Sowjetunion den Russen nun das Monopol auf den ehrenwerten Teil der Geschichte streitig. Auch sie kämpften in der Roten Armee. Von den schätzungsweise 27 Millionen sowjetischen Opfern entfiel ein überproportionaler Teil auf sie. Bei ihnen verübten Wehrmacht, SS und Einsatzkommandos die meisten Verbrechen. Bis Zentralrussland kamen sie nicht.
Die Sicht der Balten und Polen fehlt im Geschichtsbild
Auf die Schnelle sind diese Gräben nicht zu überbrücken. Europa muss mehr tun, um die Geschichtsbilder öffentlich zu diskutieren, damit man in fünf oder zehn Jahren eventuell eine Basis für gemeinsames Gedenken findet. Ansätze hat es immer wieder gegeben, zum Beispiel als die lettische Ex-Außenministerin Sandra Kalniete 2004 den Preis der Leipziger Buchmesse bekam und das Geschichtsbild ihres Volkes schilderte. Daraus wurde aber kein kontinuierlicher Lernprozess.
Am 8. Mai wird Bundespräsident Gauck wohl in Deutschland bleiben. Er kann einen Friedhof mit sowjetischen Soldaten besuchen und durch seine Worte deutlich machen, dass er dies alles im Blick hat. Was auch immer die Rote Armee während des Weltkriegs tat und welche Folgen ihr Sieg für erneute Unterdrückung hatte: Am 8. Mai 1945 gehörte sie zu den Kräften, die die Deutschen von ihrer verbrecherischen Regierung befreiten. Sie war keine nationslose und keine rein russische Armee; die Ehre, die ihr gebührt, gebührt auch den nichtrussischen Soldaten. Die Scham über die Verbrechen auf sowjetischem Boden empfinden die Deutschen nicht allein gegenüber Russen, sondern ebenso gegenüber Ukrainern, Weißrussen und Balten.
Christoph von Marschall