Holocaust-Gedenktag: Russland als Befreier und Aggressor
Man kann den Völkern nicht vorgeben, wie sie sich erinnern sollen: In Polen und Tschechien hadern viele besonders mit einem Aspekt. Ein Kommentar
Geschichtsbilder sind nicht festgefügt. Jede Generation arbeitet an ihnen. Nicht einmal auf einem zusammenwachsenden Kontinent wie Europa führt das zwangsläufig zur Annäherung. Nationen suchen sich ihre eigenen Anstöße, wie sie historische Ereignisse bewerten, was sie sich aneignen, verdrängen oder gar ablehnen. Die Umdeutungen machen nicht einmal vor einem so gründlich erforschten und belegten Geschehen wie dem Genozid an Europas Juden, den Konzentrationslagern und ihrer Befreiung halt.
Es gebe keine deutsche Identität ohne Auschwitz, hat Bundespräsident Gauck am Holocaust-Gedenktag den 81 Prozent der Deutschen entgegengehalten, die laut einer Studie die Geschichte der Judenverfolgung hinter sich lassen möchten. Anders als das deutsche Tätervolk vergewissern sich andere Nationen 70 Jahre nach der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee hingegen, ob und wie ihre Beziehung zu Auschwitz ihre Identität stärken kann. Russen sehen sich als Befreier. Polen, Tschechen, Ukrainer und andere Ostmitteleuropäer sehen sich als doppeltes Opfer, zerrieben zwischen zwei totalitären Mächten.
In Polen und Tschechien hadern viele mit der Darstellung der Russen
Diese Suche nach geschichtlicher Relevanz für das Selbstbild wurde 2015 zum Hindernis für gemeinsames Gedenken. Aktuelle Einschnitte verändern den Blick auf das Gestern, etwa der Ukrainekrieg die Interpretation der Rolle der Sowjetunion in Europas Geschichte. Und so fehlte Wladimir Putin in Auschwitz und zelebrierte ein speziell russisches Gedenken in Moskau.
Man würde wünschen, dass der geschichtspolitische Streit ein ehrliches Nachdenken über die historischen Abläufe auslöst, das irgendwann eine Wiederannäherung ermöglicht. Zwischen den Nachfahren der deutschen Täter und den Nachfahren der Opfer ist das einigermaßen gelungen.
In Polen und Tschechien hadern viele mit der Darstellung der Russen als Befreier. Sie haben die Nachkriegsgeschichte als sowjetische Besatzung erlebt und sehen in Putin den Aggressor gegen die Ukraine. Die jüdischen Gemeinden in Tschechien protestierten deshalb gegen eine Teilnahme Putins am Gedenken im KZ Theresienstadt.
Auch in Polen ist Putin nicht gern gesehen, wenngleich kein Offizieller das offen ausspricht. Der ehemalige Außenminister und Auschwitz-Häftling Wladyslaw Bartoszewski, der so viel für die deutsch-polnische Versöhnung getan hat, rüttelt an dem tradierten Bild, wonach die Sowjetunion erst ein Opfer Hitlers war und dann eine Befreiungskraft. Hitler und Stalin hätten bei der Vernichtung des polnischen Staats und seiner Führungsschicht kooperiert. Auschwitz wurde 1940 als Lager für polnische politische Häftlinge eingerichtet, in das auch er als 18-Jähriger kam, und blieb es einige Zeit. Erst später wurde es zum Vernichtungslager für Juden. Parallel ließ Stalin tausende polnische Offiziere und Polizisten in Massakern bei Katyn hinrichten. Bartoszewski erkennt die Einzigartigkeit des Holocaust an. Er bittet nur darum, dass das polnische Leid darüber nicht in Vergessenheit gerät.
"Widerliche Lüge"
Er gehört zu den Moderaten und Faktensicheren in der Auseinandersetzung. Andere schlagen schrille Töne an. Polens Außenminister Grzegorz Schetyna behauptete, nicht Russen, sondern Ukrainer hätten Auschwitz befreit, wie man schon am Namen der Heeresgruppe „Erste Ukrainische Front der Roten Armee“ erkenne. „Widerliche Lüge“, konterten Russen. Der Name leite sich vom Weg des militärischen Vorstoßes ab. In der Roten Armee hätten Angehörige vieler Völker gedient, vor allem Russen, aber auch Ukrainer, Weißrussen, Kasachen und andere. Außenminister Sergej Lawrow warnte davor, mit nationalistischen Gefühlen zu spielen. Das hinderte den Moderator des Moskauer Auschwitz-Gedenkens zu Ehren Putins aber nicht an nationaler Überhöhung: Jeder Rotarmist, der Auschwitz befreite, sei als Russe zu betrachten, selbst wenn er Kasache oder Ukrainer war.
Man kann den Völkern nicht vorgeben, wie sie sich erinnern sollen. Schon gar nicht dürfen das die Deutschen beim Blick auf die Verbrechen der Nazizeit. Aber wach registrieren sollten sie schon, wie ihre östlichen Nachbarn nach ihrem Umgang mit der Geschichte suchen. Verordnete Erinnerungsrituale an eine „Befreiung“, die nicht von Dauer war, und die sich dem Hinterfragen verweigern, überzeugen nachwachsende Generationen nicht. Sie wollen ihre Geschichtsbilder vervollständigen. Wenn es eine redliche Suche nach Erkenntnis und Verstehen ist, ist sie zugleich ein Akt gegen Verdrängen und Vergessen.
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