Kultur: Der nächste Osten
Wird der Völkermord zum Aufrechnungs-Exempel? Zum Streit um Hitlers und Stalins Verbrechen im Baltikum
Der Eklat in Leipzig kam gerade zur rechten Zeit. Vier Wochen vor der offiziellen Aufnahme zehn neuer Staaten in die EU liefert er den Beleg, dass die viel beschworene kulturelle Dimension der Ost-Erweiterung nicht nur Sonntagslyrik ist. Die Völker, die nach dem 1. Mai ihren Platz in den europäischen Institutionen einnehmen – im Parlament, in der Kommission, in den Ausschüssen –, erheben nicht nur Anspruch auf Milchquoten, Regionalfonds und Verwaltungsposten. Sie bringen ihre eigene Historie und Tradition mit, ihre Geschichtsbilder und Traumata. Und es kann ganz schön krachen, wenn die auf die westlichen Sichtweisen treffen.
Zum Beispiel bei der Eröffnung der Leipziger Buchmesse vor wenigen Tagen. Als Sandra Kalniete, Lettlands Ex-Außenministerin und künftige EU-Kommissarin, in ihrer kurzen Rede über das alte und das neue Europa zur Passage über die Geschichte ihres Volkes unter den Diktatoren Hitler und Stalin kam und sagte, „die beiden Totalitarismen – Nazismus und Kommunismus – waren gleichermaßen verbrecherisch“, verließ Salomon Korn aus Protest den Saal. In seinem Verständnis hatte Sandra Kalniete Stalins Verbrechen an den Völkern der Sowjetunion – sie sprach von einem „Genozid“ – mit dem Holocaust gleichgesetzt. Das empfand das Präsidiumsmitglied des Zentralrats der Juden in Deutschland als unerträglich. Und als öffentlichen Skandal, wie er gestern ausführlich im Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“ begründete.
Im Protest gegen jeden Versuch einer solchen Gleichsetzung kann man Korn nur beipflichten. Der Holocaust, der industrialisierte Völkermord in Vernichtungslagern und Gaskammern, ist singulär. Diese Sonderstellung kann weder den jüdischen Opfern noch den deutschen Tätern jemand nehmen.
Zwei Fragen jedoch blieben in der deutschen Debatte über den „Eklat“ ungeklärt: Erstens, um welche Gleichsetzung ging es Sandra Kalniete? Sie sagt, sie wollte nicht die Leiden ihres Volkes und der anderen Sowjetvölker mit dem Holocaust gleichsetzen, wohl aber den verbrecherischen Charakter der beiden Totalitarismen. Zweitens, wie kommt die künftige EU-Kommissarin dazu, Nazismus und Kommunismus in so große Nähe zu rücken und die Ereignisse hinter dem Eisernen Vorhang im Stalinismus als „Fortsetzung des Genozids an den Völkern Osteuropas“ zu bewerten?
Salomon Korn sucht die Antwort in Kalnietes persönlicher Geschichte, die in ihrer Autobiografie „Mit Tanzschuhen im sibirischen Schnee“ nachzulesen ist, bisher allerdings nur auf Lettisch und Französisch. Ihre Familie wurde nach Sibirien deportiert, dort ist sie 1952 geboren, ihre lettische Heimat lernte sie erst mit sieben Jahren kennen. Salomon Korn mahnt, persönliche Erfahrung dürfe nicht zum Maßstab der Beurteilung historischer Zusammenhänge werden: „Hier steht das Einzelne nicht fürs Ganze.“
Das wird man in Lettland ganz anders sehen. Kalnietes Geschichte ist aus baltischer Sicht ein typisches Schicksal. Und die Summe dieser Schicksale hätte, wenn die Sowjetunion nicht zusammengebrochen wäre, zur Auslöschung der nationalen Kultur, ja zum Ende der Nation geführt. Dieses Trauma teilt sie mit der noch kleineren estnischen Gesellschaft. Im Hitler-Stalin-Pakt fiel das Baltikum in den sowjetischen Machtbereich. In mehreren Deportationswellen wurden die identitätstragenden Schichten in den 40er und 50er Jahren in den Gulag gebracht, viele starben schon auf dem Transport in den Viehwaggons, darunter zahllose Kinder. Parallel wurden Russen im Baltikum angesiedelt.
Natürlich, dies war kein bürokratisch auf Tötungseffizienz angelegter Völkermord im Namen der Rasse wie der Holocaust, es fielen auch „nur“ etwa 120 000 der rund 1,5 Millionen Letten den Deportationen zum Opfer. Empfunden aber wurde dies als schleichender Massenmord im Namen der Klasse, der im Ergebnis auf die kulturelle Vernichtung einer Nation hinausgelaufen wäre – zumal Lettland weitere zehn Prozent durch Flucht vor den Diktaturen verlor. Schon vor der Annexion des Baltikums war Stalin 1937 gegen die lettische Minderheit in der Sowjetunion vorgegangen, hatte Zehntausende ermorden und die lettischen Schulen schließen lassen. Als Lettland 1991 unabhängig wurde, stellten Letten nur noch gut die Hälfte der Bevölkerung, in der Hauptstadt Riga waren die Russen in der klaren Mehrheit, sie hatten die Schlüsselstellungen inne, Russisch hatte das Lettische verdrängt.
Ähnlich in Estland, wo die Familiengeschichte Lennart Meris, Staatspräsident von 1992 bis 2001, ebenso typisch wie prägend für das Geschichtsbild ist. Der in Berlin aufgewachsene Diplomatensohn wurde nach der Rückkehr nach Estland mit der Familie nach Sibirien deportiert, sein Vater starb in der Haft. Die Sowjetisierung der nur rund eine Million Esten durch den übermächtigen russischen Nachbarn und die noch frische traumatische Angst vor der nationalen Auslöschung waren das entscheidende Motiv, warum Estland sich 2000 als erster Staat überhaupt entschloss, das ganze Volk genetisch scannen zu lassen und eine nationale Gen-Datenbank anzulegen. Das geschah nicht etwa aus mangelnder Sensibilität für die Erfordernisse des Datenschutzes nach Jahrzehnten kommunistischer Diktatur, wie westliche Beobachter vermuteten.
Doch: Vernachlässigt ein solches, auf die nationale Opferrolle konzentriertes Geschichtsbild nicht die Verwicklungen in die Untaten der beiden Diktaturen: die Zehntausenden Letten, die in SS und Polizei Hitlers willige Helfer bei der Judenvernichtung waren, und jene Letten, die mit der Sowjetmacht kollaborierten? Dient der Verweis auf die eigenen Leiden gar dazu, von der Mitschuld abzulenken – und wie groß ist überhaupt die Bereitschaft, die eigene Vergangenheit aufzuarbeiten? In Lettland ist man verwundert, dass dieser Vorwurf ausgerechnet am Beispiel Kalniete erhoben wird. Als Außenministerin hat sie sich für die Berufung einer Historikerkommission zur Untersuchung der Verbrechen im Zweiten Weltkrieg durch den Präsidenten stark gemacht.
So ist die Ost-Erweiterung der EU beides zugleich: die politische Korrektur der historischen Katastrophe der Teilung Europas. Und doch erst der Beginn ihrer intellektuellen Überwindung – auch durch einen Historikerstreit. Im Westen weiß man wenig von der kulturellen Identität der neuen Partner aus dem „Osten“. Sie machen es sich und uns auch nicht leichter, wenn sie uns davon überzeugen wollen, dass auch sie Westen sind und immer gewesen sind – weil sie nicht mit einem Osten identifiziert werden wollen, der für sie Russland ist.
Beide Seiten beginnen erst wieder damit, sich die Kenntnis voneinander anzueignen. Die Klischees sind noch stark – nicht nur die in den Geschichtsbildern, sondern auch die Klischees über die vermuteten Geschichtsbilder des anderen. In Sandra Kalnietes Rede drückt sich auch der Argwohn aus, dass viele im Westen das Ausmaß der Verbrechen des Kommunismus noch immer nicht wahrhaben wollen – als habe es das 1997 erschienene „Schwarzbuch des Kommunismus“ nie gegeben. Wie umgekehrt die im Westen häufig anzutreffende Redefigur von einem speziell osteuropäischen Antisemitismus für den Zweifel steht, ob die Polen, die Ungarn, die Letten sich überhaupt mit ihrer Täterrolle auseinander setzen wollen.
Ja doch: Das Geschichtsbild im „Okkupationsmuseum“ im Zentrum von Riga ist nicht über jede Kritik erhaben. Der Beteiligung von Letten am Holocaust wird weniger Platz eingeräumt als dem lettischen Leiden im Gulag. Aber die Kollaboration wird thematisiert. Man kann darüber streiten, ob Polen sich anlässlich der Jahrestage ausreichend und in der richtigen Weise mit dem Massenmord an Juden in Jedwabne 1941 oder dem Pogrom von Kielce 1946 auseinander gesetzt hat. Aber in Jedwabne steht heute ein Gedenkstein – und Präsident Kwasniewski hat sich in bewegender Weise entschuldigt.
Die EU-Erweiterung kann dieses Vorwärtstasten zu neuen Geschichtsbildern befördern – wenn Ost und West die Neugier mitbringen, hinzusehen und zu vergleichen. Wie anders als durch Vergleichen sollen die noch jungen Zivilgesellschaften Maßstäbe finden? Das heißt ja nicht aufzurechnen. Den Bürgersinn wird das stärken. Nicht nur im Baltikum.
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