„Seefeuer – Fuocoammare“ im Kino: Zweimal Lampedusa, zwei Welten
Im Dokumentarfilm "Seefeuer" zeigt der Italiener Gianfranco Rosi den Alltag und die Ankunft von Flüchtlingen auf der italienischen Insel. Er gewann auf der Berlinale den Goldenen Bären.
Samuele ist zwölf, Sohn eines Fischers, ein ziemlich normaler Junge. Langweilt sich ein bisschen, was soll man schon tun am Nachmittag auf der kleinen, steinigen Vulkaninsel, ballert mit imaginären Schnellfeuerwaffen auf die Marineschiffe vor der Küste, schlürft Spaghetti mit Tintenfischsauce in Großmutters Küche, bastelt Steinschleudern mit seinem Freund. Kiefern eignen sich gut, weil sie robuste Astgabeln haben, und der Gummi darf nicht zu locker sein. Sie schneiden Gesichter in fleischige Kaktusohren, beschießen sie, stecken kleine Knallkörper in die Löcher. Verrecke!, rufen die beiden, auf Vögel zielen sie auch. Jungs halt. Auf dem Fischerboot des Vaters hängt Samuele über der Reling, rudern kann er auch nicht. Ein seekranker Fischersohn? Hier leben alle von der Seefahrt. Samuele soll seinen Magen abhärten, sagt der Vater, auf dem Bootssteg, bei schwerer Brandung.
Ein paar Meter weiter, in der Auffangstation von Lampedusa: Menschen in Not, sie kommen von Bord des Seenotrettungsschiffs, eingehüllt in goldglitzernde, knisternde Kälteschutzfolien. Große Augen, ecce homo, Aliens aus Afrika. Die Mittelmeerflüchtlinge werden erkennungsdienstlich behandelt, mit ihren weißen Overalls und Schutzmasken sehen die Helfer ebenfalls wie Aliens aus. Sie fragen nach dem Herkunftsland, halten den Ankömmlingen eine Nummer neben das Gesicht, machen ein schnelles Foto, nehmen Leibesvisitationen vor. Die Flüchtlinge riechen stark nach Diesel, in den Booten hat sich der Motorsprit mit Salzwasser vermischt. Der Flüchtlingsarzt, Dr. Bartolo, zeigt ein Bild von den schweren Verätzungen, die das Gemisch zur Folge hat.
Zweimal Lampedusa, zwei Welten. Hier der Insel-Alltag mit den Fischern, dem Seeigel-Taucher und der alten Maria, die sich von Nello, ihrem im Lokalradio moderierenden Neffen, Volkslieder wünscht. Da die auf ihre Weiterverschickung wartenden Asylbewerber. Der italienische Dokumentarist Gianfranco Rosi schneidet die Bilder in „Seefeuer – Fuocoammare“ gegeneinander. Um deutlich zu machen, was Samuele hat und der Flüchtling nicht: Heimat. Und Identität. Den Jungen lernt der Zuschauer kennen, die Flüchtlinge bleiben anonym. Notgedrungen, denn sie verlassen die Insel nach wenigen Tagen wieder. Für eine Begegnung vor der Kamera bleibt keine Zeit.
Wird die Wahrheit von Lampedusa verkürzt?
„Seefeuer“ zeigt immerhin, was es ganz konkret bedeutet, dass diese fast surreal schroffe, nur 70 Kilometer von der afrikanischen Küste entfernte Vulkaninsel mit der Flüchtlingsrealität konfrontiert ist wie kein anderer Ort in Europa. Monat für Monat erleben die gut 6000 Bewohner, was geschieht, wenn ungefährliche Landrouten und legale Passagen versperrt sind. 400 000 Flüchtlinge strandeten in 20 Jahren hier, 15 000 Menschen starben vor Lampedusa, heißt es zu Beginn. Eine Zahl, die jetzt nach oben korrigiert werden muss. Alleine dieses Frühjahr fanden im gesamten Mittelmeer 2500 Menschen den Tod.
Ein Film, der aufrüttelt, keine Frage. Auf der Berlinale gewann „Seefeuer“ den Goldenen Bären; dem „Spiegel“ zufolge hat Italiens Ministerpräsident die DVD bei einem EU-Gipfel verteilt, an alle Regierungschefs einschließlich Kanzlerin Merkel. Dennoch stimmt etwas nicht bei dieser engagierten Produktion, für die der Regisseur ein Jahr auf Lampedusa lebte, allein einen Monat auf dem Rettungsschiff Cigala Fulgosi zubrachte und mit kleinstem Team arbeitete – er selbst führte die Kamera. Irgendwann fragt man sich, ob die zwei Welten auf der kleinen Insel tatsächlich nie in Kontakt geraten. Hat Samuele nie einen Flüchtling gesehen, denkt er nie über sie nach? Beschränkt sich die Wahrnehmung der Ankommenden auf die Radionachrichten, die die alte Maria (Samueles Tante? Man erfährt es nicht) beim Pastakochen hört? Oder ist die extreme Diskrepanz zwischen Normalität und Ausnahmezustand der Ästhetik des Kontrasts geschuldet? Allein die Marineschiffe, hier sind sie Lebensretter, dort Zielobjekt für ballerspielende Jungs – das verkürzt die Wahrheit von Lampedusa.
Rosi verzichtet auf Off-Kommentare und Zusatzinfos, außer im Vorspann. Er übt Geduld, seine Zurückhaltung in Ehren. Aber spätestens wenn er dem Inselarzt beim Ultraschalltest einer schwangeren Afrikanerin zuschaut und dieser in wenigen Sätzen berichtet, was er gesehen hat in 20 Jahren, was es heißt, immer wieder Leichen obduzieren zu müssen, spätestens dann würde man gern mehr von diesem Pietro Bartolo erfahren. Im Vergleich zu dem großspurigen Samuele ist er der interessantere Protagonist. Denn die Welten sind für ihn nicht getrennt.
Das träge Auge - eine Metapher für Europa
Um die Unwucht zwischen dem klar konturierten Samuele und den phantomhaften Flüchtlingen auszugleichen, sucht Rosi wenigstens physisch die Nähe zu ihnen. Filmt ihre Gesichter in Close-ups, gezeichnet von Schmerz, Hoffnung, Fatalismus. Hört zu, wie einer für alle eine Art Gospel anstimmt, ein vom Sprechchor der anderen grundierter Flucht-Rap: Nigeria, Sahara, Libyen, Gefängnis, jeden Tag Schläge, wieder die Wüste, die Pisse, die sie tranken, die Berge, das Meer. „The sea is not a road“, singt der Mann, und dass das Leben lebensgefährlich sei. Samueles Augenprobleme sind läppisch dagegen. Ein Auge ist träge, sagt der Optiker, es muss aktiviert werden – für Rosi eine gefundene Europa-Metapher.
Schließlich die Szene, von der sein Film sich nicht mehr erholt. Bei der Bergung eines riesigen rostigen Kahns entscheidet sich der Dokumentarist nach sichtlichem Zögern, mit der Kamera in den Laderaum hinabzusteigen. 40 Leichen, er zeigt sie mit gebotener Distanz. Und die Überlebenden: zu Tode erschöpfte Menschen, zuckende Leiber später auf dem Rettungsschiffsdeck, wie Fische im Netz. Die stille Wucht dieser Szenen straft jede Doku-Ästhetik Lügen. Sie erinnern daran, dass die allermeisten von denen, die in diesen Tagen als Amok- oder Terrortäter in den Schlagzeilen auftauchen, Opfer sind, elende Opfer. Und sie brennen sich ein wie die Ikonografie des titelgebenden Seefeuer-Lieds, das von Brandwaffen auf dem Meer kündet, damals im Krieg. Ein Feuer, das nicht gelöscht werden konnte.
OmU. In elf Berliner Kinos. Mit engl. Untertiteln: b-ware! ladenkino, IL Kino