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Gefeiert von Meryl Streep und Dieter Kosslick: Dokumentarfilmer Gianfranco Rosi nahm den Goldenen Bären entgegen.
© Fabrizio Bensch/Reuters

Berlinale-Finale: "Fuocoammare": Der politische Konsensfilm gewinnt

Das war die 66. Berlinale: Goldener Bär für eine aktuelle Flüchtlings-Doku. Und eine klare Ermunterung für junge Regisseure. Die Festival-Bilanz.

Die Berlinale ist traditionell das politischste unter den drei größten Filmfestivals. Sagt man so, stolz nach draußen hin. Und meint damit halblaut oft, dass Berlin, anders als Cannes und Venedig, bei der Auswahl eher auf die weltverbesserungsbedürftigen Themen als auf die künstlerische Qualität der eingereichten Beiträge schaut. Letztes Jahr allerdings hatte die Jury dieses Raunen eindrucksvoll dementiert. „Taxi“, der eminent politische Bären-Gewinner des im Iran mit Berufsverbot bedachten Jafar Panahi, ist ein kluger, heiterer, ernster, formal exzeptioneller, kurzum: grandioser Film.

An Bären-Aspiranten mit dem offiziösen Etikett „politisch wertvoll“ hat es auch diesmal nicht gefehlt – und die siebenköpfige Jury um Meryl Streep blieb bei der Vergabe der beiden Top-Filmpreise eindeutig diesem Berlinale- Image treu. Zuerst schafft Danis Tanović, 2013 für sein Roma-Drama „Aus dem Leben eines Schrottsammlers“ mit dem Großen Preis der Jury geehrt, das Double: Seine Geschichts- und Gegenwartsallegorie „Death in Sarajevo“ holt erneut den Silbernen Bären. Erst aber mit dem Top-Preis für Gianfranco Rosis Flüchtlings-Doku „Fuocoammare“ wird die Jury-Entscheidung vollends programmatisch: als Votum für den aktuellen politischen Konsensfilm.

Tatsächlich hat der 52-jährige Italiener, der vor drei Jahren mit der Sozialstudie „Sacro GRA“ über Anwohner des römischen Autobahnrings beim Filmfest in Venedig triumphierte, von seinem einjährigen Aufenthalt auf Lampedusa eindrucksvolle, teils erschütternde Bilder mitgebracht. Aufrütteln und gewiss auch schockieren sollen die Aufnahmen von Entkräfteten, von Leichensäcken – bis hin zum langsamen Schwenk über Tote im Bauch eines Flüchtlingsboots. Aber sensibilisieren diese Szenen noch neu für die Tragödien der Flüchtlinge? Werden sie nicht sofort eingemeindet in die Ikonografie der seit Monaten dominierenden Nachrichtenbilder? Fordern sie mehr heraus als einen – im Festivalgeschehen gar noch erfolgversprechenden – Betroffenheitsreflex?

Schwieriger noch – auch darüber wurde in diesen Tagen eifrig diskutiert – ist die Koppelung solcher Bilder an den davon wenig berührten Alltag auf der kleinen Insel im Mittelmeer. Dass der menschengemachte Horror unmittelbar neben der menschlichen Indifferenz wohnt, ist leider eine Binsenweisheit. Diese überwiegend mit einem vor der Kamera zunehmend eitel agierenden Kind zu illustrieren, macht die Sache nicht besser. Vielleicht wollte Rosi mit dem gefühlt minutenlang in der Küche Spaghetti schlürfenden italienischen Jungen diese Normalität auch behutsam denunzieren; in den Berlinale-Kinos aber kamen diese Szenen vor allem niedlich rüber – oder auch, strenger gedeutet, als platte Einladung zum Eskapismus vorm nächsten Schreckensbild.

Wird das Publikum die Entscheidung goutieren?

Welche Wege „Fuocoammare“ demnächst mit seinem deutschen Verleih im Kino gehen wird, ist trotz des Berlinale-Erfolgs höchst ungewiss. Das Festivalpublikum jedenfalls schien die zahlreichen Beiträge zum Thema eher zu meiden. So blinkten zuletzt an den Ticket-Countern, die in den Ampelfarben die jeweilige Kartenverfügbarkeit anzeigen, nur wenige Titel in Grün – darunter die vielgerühmten Forumsfilme „Les sauteurs“ und „Havarie“. Kein Wunder, dass in diesen bedrückenden Zeiten das Kino, sehr klassisch, vor allem als Ort der Ablenkung floriert – und die Berlinale setzte dafür selber, mit „Hail, Caesar!“ und „Saint Amour“, dramaturgisch klare Anfangs- und Schlussakzente.

Der Bär liebt neue Namen. Den Regiepreis erhält die 35-jährige Französin Mia Hansen-Løve für „L’avenir“.
Der Bär liebt neue Namen. Den Regiepreis erhält die 35-jährige Französin Mia Hansen-Løve für „L’avenir“.
© Reuters/Fabrizio Bensch

Andererseits litt die Aufmerksamkeit für anderweitige Spannungsfelder keineswegs, so sie denn überzeugend ins filmische Bild gesetzt waren. Es sind die von jüngeren Regisseuren inszenierten hochsensiblen Frauenstudien, die auf dieser 66. Berlinale besonders Eindruck machten, und immerhin einige davon hat die frauendominierte Jury nicht übersehen. So war in einem Wettbewerb, dem die ganz großen Ausreißer nach oben und nach unten fehlten, „L’avenir“, das kluge Vereinsamungspsychogramm von Mia Hansen-Løve (35) mit Isabelle Huppert ein Bären-Muss (Regiepreis).

Auch der Drehbuchpreis für den ebenfalls 35-jährigen Polen Tomasz Wasilewski, der in „United States of Love“ für die – weibliche wie männliche – seelische und sexuelle Verödung beunruhigende Bilder fand, ist als vitaler Förderimpuls zu verstehen. Schade nur, dass der überzeugende deutsche Beitrag „24 Wochen“ der 33-jährigen Anne Zohra Berrached leer ausging; dafür bietet sich dem Spätabtreibungsdrama hoffentlich eine starke Chance im Kino. Dieser Tage hat der Verleih Neue Visionen den Film „gegen ehrgeizige Bieterkonkurrenz“ gekauft und bringt ihn wohl im Herbst heraus.

Die Berlinale wird literarisch

Richtig neu in diesem Jahrgang war allerdings weder das Politische noch das Private, sondern das Poetische. Inbrünstig wurde vor der Kamera aus Gedichten, Briefen, Romanen zitiert, war die Literatur – jenseits der Literaturverfilmungen – selber der Star. Schon merkwürdig: Fasziniert schauten die wegen der bewegten Bilder aus aller Welt herbeiströmenden Besucher auf Leinwandfiguren, die sich ausgerechnet am geschriebenen Wort ergötzen.

Ob es, wie in Ruth Beckermanns „Die Geträumten“, die von Radiosprechern gelesenen Briefe zwischen Paul Celan und Ingeborg Bachmann sind oder die Liebesbriefe des Militärarztes und später berühmten Romanciers António Lobo Antunes an seine Frau – ein wahres Buchstabenbollwerk gegen den Schwachsinn des angolanischen Kolonialkriegs („Cartas da guerra“ von Ivo M. Ferreira): Die in den Filmen zelebrierte pure Lust am Wort machte sofort Lust auf Bücher. Und entzündete die eigene Fantasie.

Um es biblisch zu formulieren: Im Anfang war das Wort, und am Ende bleibt vielleicht nur es. Schon möglich, dass eines nicht so fernen Tages – analoges Gemeinschaftserlebnis hin oder her – die Filmfestivals verschwinden, weil jedes bewegte Bild jederzeit überall privat verfügbar ist. Aber einen Gedanken loskritzeln und dann der Wünschelrute der Wörter folgen: Das ist etwas Unsterbliches, und diese Berlinale hat das auf ihre Weise gefeiert. Wie schreibt Thomas Wolfe im Roman „Schau heimwärts, Engel“, dessen Manuskript den New Yorker Lektor in Michael Grandages Film „Genius“ so unmittelbar fasziniert? „Uns sprachlos erinnernd suchen wir die große, vergessene Sprache, den verlorenen Himmelspfad, einen Stein, ein Blatt, eine nie gefundene Tür.“

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