So wild wie die Liebe: Zum ersten Todestag von Udo Jürgens
Fern jeder Coolness, lieber im vollendeten Mainstream: Der Schriftsteller Andreas Maier erzählt von seinem Jahr ohne Udo Jürgens.
Am Tag, als Udo Jürgens starb, saß der Schriftsteller Andreas Maier in der Buchscheer, einer Frankfurter Apfelweinkneipe, wo er per SMS von einer Freundin benachrichtigt wurde: „Er ist tot.“ Und noch Monate später, als er sich weiterhin intensiv mit Udo Jürgens beschäftigte, war er sich sicher: „Am 21. 12. 2014 verließ mich etwas. Irgendetwas Konstantes, immer Vorausgesetztes, eine Art Präsupposition.“ Maier, der 1967 im hessischen Bad Nauheim geboren wurde, ist natürlich wie so viele seiner Generation mit den Liedern von Udo Jürgens sozialisiert worden, ohne sich groß für ihn zu interessieren, wie es eben so manchem aus seiner Generation ging: An Udo Jürgens und dessen Hits kam man nicht vorbei, konnte ihn aber schon ignorieren, insbesondere seine öffentliche Person.
Andreas Maier aber wurde sehr spät noch zu einem richtigen Fan, zu einem „Bekehrten“, ja, „Verwandelten“, wie er das nennt. Eben jene Freundin, die Übermittlerin der Todesnachricht, eine gewisse Nina, „Gymnasiallehrerin aus dem Gießener Raum“, war es, die ihm und seiner Frau im Jahr 2010 Lieder von Jürgens vorspielte, vermutlich mit sendungsbewusster Gewissenhaftigkeit. Irgendwann machte es „Zoom“ bei Maier, schlug der Blitz ein, das Licht der Erkenntnis. Genauer: Bei dem Lied „Mein Bruder ist ein Maler“, das den Schriftsteller mit dem „Abbild seiner selbst“ konfrontierte, ihn plötzlich befreite „von diesen Geschmacksurteilen und Peinlichkeitsaburteilungen und diesem ganzen Aufwasch, mit dem du jeden Tag herumläufst.“
Maier nähert sich Udo Jürgens am liebsten vor dem Hintergrund der eigenen Biografie
Diese Verwandlung ging so weit, dass Maier kurz nach Jürgens’ überraschendem Tod eine regelmäßige Kolumne auf der „Logbuch“-Website des Suhrkamp Verlags zu schreiben begann, betitelt „Mein Jahr ohne Udo Jürgens“. So heißt jetzt auch das aus diesen Kolumnen hervorgegangene Buch, das pünktlich zu Udo Jürgens’ erstem Todestag am kommenden Montag erschienen ist. Dieses Buch beschäftigt sich zwar mit Jürgens: Maier betreibt darin Udo-Jürgens-Stochastik, wie er es einmal nennt, er übt Udo-Jürgens-Sprachkritik und macht Liedexegesen, doch weder ist „Mein Jahr ohne Udo Jürgens“ eine wirkliche Liebeserklärung noch eine Biografie. Vielmehr fügt das Buch sich aufs Beste in die Bände von Maiers großem autobiografischen Romanzyklus „Ortsumgehung“, gewissermaßen als „side kick“, vielleicht auch als Verschnaufpause vom ständigen Zurückblicken in die eigene, bislang ferne Vergangenheit von Kindheit und Jugend.
Denn Andreas Maier nähert sich dem frühen Chanson- und späteren Schlagerstar vielmehr vor dem Hintergrund der eigenen Biografie. Die Raumschiff-Enterprise-Begeisterung seines Bruders zum Beispiel gleicht er mit Udo Jürgens ab; oder er erzählt, wie er ein Exemplar des Schreibtisches seines Großvaters, der in seiner Wohnung steht und an dem alle seine Romane entstanden sind, in dem Udo-Jürgens-Biopic „Der Mann mit dem Fagott“ wiederzuerkennen meint.
Aber trotz allem Vergangenheitsfetischismus begibt sich Maier viel auch in die Gegenwart, die er die paar Jahre mit Jürgens gewissermaßen teilte, nachdem er „verwandelt“ worden war. Er berichtet von seinem ersten Jürgens-Konzert, der Fahrt dorthin, vom schambesetzten Kauf von Jürgens-Platten in Second-Hand-Läden, von seinen Herumtreibereien in Frankfurter Apfelweinwirtschaften, die „Gemaltes Haus“, „Drei Steuber“ oder eben „Buchscheer“ heißen.
Maiers Stammlokale und seine Begeisterung für Jürgens ergänzen sich dabei gut: hier ein sehr spezielles, mitunter folkloristisches Milieu, in dem es nie um cool oder uncool oder hip oder angesagt geht, in dem Distinktionsgewinne keine Rolle spielen und der Stammtisch zu sich selbst findet. Und dort ein Musiker, der sich gleichfalls stets allen Cool- und Hipness-Kategorien entzogen hat, der immer einer für alle war, für den großen Durchschnitt, für die Stammtische der Apfelweinkneipen. Kurzum: für den „vollendeten Mainstream“, so Andreas Maier.
Mit Coolness hat Maier nichts am Hut - auch deswegen schätzt er Udo Jürgens so
Die vielen eigenen biografischen Abweichungen lassen Maier seinen Untersuchungsgegenstand jedoch nie aus den Augen verlieren. Maier kommt zu dem Schluss, dass Udo Jürgens als 80-Jähriger praktisch mitten aus dem Leben gerissen wurde (ja, genau, „Mitten im Leben“ hieß Jürgens’ letztes Studioalbum), wie ein 20- oder 40-Jähriger, einfach so, nach dem Mittagessen, bei einem Spaziergang. Wozu auch passt, dass der Tod in Jürgens’ Liedern praktisch keine Rolle spielt. Maier analysiert „die Unmöglichkeit der Vollständigkeit“, weil die vielen Live-Platten von Jürgens, seine Beiträge auf zahlreichen Schlagersamplern oder vielen Tribute-Alben es höchst schwierig erscheinen lassen, das Gesamtwerk zu erwerben oder überhaupt zu überblicken. Auch den diversen künstlerischen Phasen von Udo Jürgens widmet Maier sich, seiner „Kunst des Nicht-Sagens“, und selbst die genderdiskursiven Anteile bei Jürgens inspiziert der Schriftsteller. Dabei bekommt man allerdings gerade bei der dreiteiligen, höchst genauen Analyse von „Merci Cheri“ und auch der lyrischen Blasen der Stücke des letzten Jürgens-Albums bisweilen den Eindruck, dass Maier ein gewisser Wahnsinn innewohnt, ein eigener Hang zum fröhlichen Dadaismus, den er Jürgens’ Texten attestiert.
„Udo Jürgens ist ganz offenbar mein zweiter Onkel J.“
Überhaupt gibt es von Maiers Seite einen etwas beliebigen, laxen Umgang mit dem, was in Pop und Rock seit jeher vermeintlich für cool gehalten wurde und im Gegensatz zu Udo Jürgens steht. Wahllos wirft er mit Namen wie Deep Purple, Led Zeppelin, Thin Lizzy, Pink Floyd, den Stones, Falco oder Nick Cave um sich; einmal tut er so, als habe er von Bands wie Joy Divison, New Order oder Portishead (Vorsicht, könnten alle mal „cool“ gewesen sein!) erst spät oder nie was gehört, und er unterschlägt auch, dass er eigentlich ein großer Tocotronic-Kenner und Textexeget ist (wie ich einmal bei einer Fahrt mit ihm vom Odenwald nach Frankfurt erfahren durfte). Reichlich schlecht gelaunt mutet es zudem an, als er Udo Jürgens einmal gegen „die Speerspitze des Feuilletons“ in Schutz nimmt (quasi als „Sprachrohr des Stammtischs“?). Denn für das Feuilleton soll Jürgens wegen seiner nichtssagenden, damit aber geradezu klassischen Liedtexte „immer der Depp“ gewesen sein, was so nicht stimmt.
Trotzdem bekommt Maier stets die Kurve, hat er immer noch eine Geschichte parat, die mit „neulich“ beginnt und ihn gleichermaßen als Erzähler wie als reflektierten Phänomen-Ergründer ausweist – bis hin zu dem Schlussbild, das es nur im Suhrkamp-„Logbuch“ gibt. Auf diesem führt Maier noch einmal beide Seiten in sich, den Jürgens-Fan und den Schriftsteller, wieder zusammen, und zwar in der Person seines Onkels J. Dieser ist die Ausgangsperson für Maiers bisherige biografischen Romanerkundungen von „Das Zimmer“ über „Das Haus“ und „Die Straße“ bis zu „Der Ort“ – und auch eine Art Vorbild für Udo Jürgens: „Udo Jürgens ist ganz offenbar mein zweiter Onkel J.“
Wie bei dem Onkel hatte Maier bei Udo Jürgens das Gefühl, gerade nach dessen plötzlichem Tod, dass dieser „sich sehr gut würde auf dem Papier bewegen können, nicht festgelegt, ganz vielseitig und stets unerwartet.“ Ein Glück ist das für Andreas Maier gewesen, wie nun für seine Leser. Und vielleicht ist es das auch für die vielen Udo-Jürgens-Fans in Deutschland. Denn so intensiv wie in diesem Buch hat noch niemand über Jürgens nachgedacht, womöglich dahingehend, dass Jürgens-Fans gar über sich selbst so einiges in Erfahrung bringen können.
Andreas Maier: Mein Jahr ohne Udo Jürgens. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 218 Seiten, 17,95 €.
Gerrit Bartels
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