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In weiter Ferne die Ortsumgehung. Das Städtchen Friedberg in der Wetterau in Hessen, Lebensmittelpunkt des jungen Andreas Maier in den achtziger Jahren.
© imago

Andreas Maier und sein Roman "Der Ort": Im Zeichen der Hickelkästchen

Der Schriftsteller Andreas Maier, 1967 in Bad Nauheim geboren, setzt mit dem Roman "Der Ort" seine großartige Erinnerungssaga fort - über die Wetterau, seine Kindheit und Jugend in Hessen und mehr.

Wer sich erinnert, versichert sich seiner selbst; zumindest so weit das möglich ist – denn der Mensch, der man einmal war oder gewesen sein muss, schaut einen oft ziemlich fremd und seltsam aus der Vergangenheit an. Wer sich zudem schreibend erinnert und das über einen langen Zeitraum, in einem ganzen Romanzyklus gar, muss sich genau dieses Vorhabens immer mal wieder versichern und es erklären. So wie der 1967 in Bad Nauheim geborene Schriftsteller Andreas Maier, der seinen neuen Roman „Der Ort“ zunächst mit der Kurz-Beschreibung seines großen, bislang auf elf Bände angelegten Wetteraus-Erinnerungswerks „Ortsumgehung“ beginnt, eines Werkes, „das du so lange weiterschreibst, bis du tot bist“.

Nach den Bänden „Das Zimmer“, „Das Haus“ und „Die Straße“ ist „Der Ort“ nun der vierte Teil dieser vielleicht wirklich lebenslang dauernden erzählerischen Ortsumgehung. Deren Abschnitte, obgleich überschaubar im Seitenumfang, nehmen von Buch zu Buch einen immer größeren Raum ein, parallel zum Älterwerden des Erzählers. So hebt die eigentliche Erzählung mit den Worten „Als ich fünfzehn war“ an: Maier berichtet von seinen Spaziergängen mit „der Tochter des Buchhändlers“ oder allein in der Umgebung des hessischen Örtchens Friedberg, „über das Feld von Friedberg nach Ockstadt und zur Hollarkapelle“, von seiner Absicht, sich im Alter von 18 Jahren umzubringen, oder wie er in seinem Zimmer mit Blick auf das Flüsschen Usa den „Zauberberg“ liest, dabei Wein trinkend und ungarische Wurst essend.

Handelte „Die Straße“ vom sexuellen Erwachen, der sexuellen Bewusstwerdung, die nicht nur den Erzähler selbst betraf, sondern sich gerade auch auf die Umwelt bezog, so stehen im Mittelpunkt von „Der Ort“ die Irrungen und Wirrungen der Pubertät des Erzählers in den frühen achtziger Jahren. Der Sex, das andere Geschlecht spielen natürlich abermals eine Rolle; doch wichtiger noch sind das pubertäre Sich-fremd-und-anders-Fühlen, gerade im Verhältnis zur Umgebung, das Verzweifelt-und-Kranksein, das insbesondere die Anderen einem unterstellen, obwohl diese genauso krank, wenn nicht gar viel kränker sind. (Diese Problematik spielt übrigens auch in „Die Straße“ und „Das Haus“ eine zentrale Rolle).

Andreas Maier erzählt in „Der Ort“, wie sein sprichwörtliches Alter Ego stets aufs Neue ein zusätzliches Bild von sich entwirft und durchzieht seinen Roman mit dem Leitmotiv des romantischen Doppelgängers. „Kaum verließ ich das Haus, begann die Selbstbespiegelung“, hebt er einmal an. Oder: „Wenn ich morgens auf meinem Schreibtisch saß, um den Sonnenaufgang zu sehen, wenn ich mein Essen stehenließ, wenn ich mich auf die Bänke der Städte setzte, dann tat ich das offenbar, weil ich meinte, dass jemand, der in einem solchen Zustand wie ich war, das nun einmal so tue.“

Die Erinnerungsarbeit ist hochanalytisch

Das Erinnern ist in Maiers „Ortsumgehung“, und das macht den Reiz dieses Romanzyklus’ aus, nie ein bloßes Erinnern, wie es gewesen ist, nie Eins-zu-Eins-Wiedergabe der Vergangenheit, so wie bei anderen Erinnerungskünstlern, etwa dem Norweger Karl Ove Knausgård oder Gerhard Henschel. Nein, Maiers Erinnerungsarbeit ist hochgradig reflektiert und analytisch. Maier ist zwar ganz bei sich selbst, bei dem 15- bis 18-jährigen Jugendlichen, der er war. Doch er betrachtet diesen und dessen Verhaltensweisen mit dem Intellekt des Mannes, der er heute ist. So diskutiert Maier genauso Fragen nach der Wahrheit oder der „Wahrheitslosigkeit“, wie in „Das Haus“, dreht und wendet die Sprache als solche, wie in „Die Straße“, oder klopft die Pubertät vor dem Hintergrund der literarischen Lektüren ab, so wie in diesem Buch. Me, Mynheer Peeperkorn and I gewissermaßen.

Dass sich das sprachlich und dramaturgisch nicht wie aus einem Guss darstellt, versteht sich, trotz der Kapitelunterteilungen mit Zitaten aus Charlie Chaplins Song „Spring Time“. Allerdings hat man den Eindruck, als hätte Maier dieses Mal gebraucht, um den Erinnerungsmotor in Gang zu bringen. Denn nach der Eingangssequenz erklingt zunächst aus der Ferne eine Art Thomas Bernhard-Sound, was an der seltsamerweise namenlosen, nicht mal, wie später andere Figuren, mit einem Kürzel firmierenden „Tochter des Besitzers der Bindernagelschen Buchhandlung“ liegen mag, an vielen Ortsnamen und einigen langen, in sich kreisenden Sätzen. Erst als die Gummitwist und Hickelkästchen spielenden Mädchen auf die Bühne kommen, alle mit vollem Namen, fast schon Frauen, die noch einmal Kinder spielen, wie Maier erläutert, als die angebetete Katja Melchior als Buchhändlertochternachfolgerin in den Erinnerungsblick kommt, als Maier sich auf Parties, in der Schule, auf seinen Wegen durch Friedberg und in den Kellerkneipen der Stadt spiegelt, wird die Sprache ruhiger, flüssiger, die Analyse noch genauer.

Natürlich fragt man sich, warum gegen Ende eine CDU-Bierzeltveranstaltung so ausführlich erzählt wird, mit Salatköpfen, die Maier und seine Freunde an der Garderobe abgeben müssen, und Deutschlandfahnen, die sie danach zu einem Hakenkreuz legen. Das fällt aus dem Erzählrahmen, ob es die beginnende Politisierung anzeigen soll? Doch so ist das mit der Erinnerung: Willkürliches mischt sich mit Unwillkürlichem, Stringenz und ein genaues Maß stehen da auf keinem Masterplan.

Das Ich, dem Maier auf der Spur ist, das von früher, womöglich auch das von heute, besteht aus vielen und oft kleinsten Verästelungen und Abwegen. Ob ihm dieses Ich gefällt oder nicht, es ihm seltsam und fremd anmutet, diese Frage stellt sich dem inzwischen in Hamburg lebenden Schriftsteller nicht. Er muss weiterschreiben, und wenn als nächstes die Stadt und das Land an der Reihe sein sollten, stellen sich wieder ganz neue Erkenntnisse ein.

Andreas Maier:  Der Ort. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 154 Seiten, 17, 95 €.

Gerrit Bartels

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