Tagesspiegel-Salon zum Musikfest Berlin: Zukunftsmusik im Kritikeralltag
Welchen Stellenwert hat Musikkritik heute noch - und welche Funktion kommt ihr zu? Eine Antwort auf diese Fragen suchten Redakteure und Leser des Tagesspiegels bei einem Salon zum Musikfest.
Tönen eine Sprache zu geben, darin liegt ein wesentlicher Aspekt der Musikkritik. Kritiker versuchen, das Gehörte verständlich, ja geradezu „anschaulich“ zu machen. Dass es dabei zu Missverständnissen kommen kann, liegt in der Natur der Dinge. Denn Ausdrucksweisen gibt es viele – Lesarten noch viel mehr.
Welchen Stellenwert hat Musikkritik heute? Und welche Funktion kommt ihr zu? Darum ging es in einem Salon zum Musikfest Berlin, der im Haus des Tagesspiegels stattfand. Zu Beginn gab es ein Glas Sekt, der Pianist Michael Abramovich rahmte den Abend mit seinem wunderbar eigenwilligen Spiel ein. Das Programm, das der künstlerische Leiter des Festivals, Winrich Hopp, zusammengestellt hat, ist alles andere als konventionell und wird gerade deshalb von Klassikkennern und –kritikern mit Spannung erwartet. Vor allem von den beiden Feuilleton-Redakteuren Frederik Hanssen und Ulrich Amling, den „siamesischen Klassikzwillingen“ des Tagesspiegels, und Andreas Richter, die das Musikfest auf dem neuen Klassik-Portal mit kritischen Augen und Ohren begleiten.
„Wie macht man eigentlich so ein Festival?“, wollte Andreas Richter von Winrich Hopp wissen. Der antwortete: Das sei so, als würde man einen Tausendfüßler fragen, wie er sich fortbewegt: Wohl oder übel, indem er einen Fuß vor den anderen setzt. „Man darf sich nicht zu Diskussionen hinreißen lassen“, findet Hopp, „Programm machen, muss schnell gehen.“ Die Grundidee für ein Festival dieser Art müsse eine gemeinsame sein, meint Hopp, denn sonst verliere man sich darin, die falschen Fragen zu stellen und das Wesentliche aus den Augen zu verlieren.
Wie ein Dirigent seine Musik, so hat auch Winrich Hopp sein Programm für das Musikfest „komponiert“. Mit Béla Bartok, Witold Lutoslawski und Leos Janácek, aber auch Benjamin Britten will er eine „sinnliche Einheit“ schaffen, bei der es untereinander natürlich auch zu Differenzen kommen kann – das muss es sogar. Doch am Schluss ist für ihn einzig und allein die richtige Proportion von Bedeutung.
Dabei spielen auch die Stimmen, die von außen kommen, vornehmlich die der Musikkritiker, eine wichtige Rolle für Hopp: „Ohne den Kommentar wäre ich manchmal sehr alleine“, sagt er. Damit Musik, vor allem die klassische, eine Zukunft habe, müsse Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit für sie generiert werden. Genau deshalb sei die Kritik für Hopp auch konstitutiv für die Kunst. Denn wem nützt schon ein brillanter Gedanke, wenn er ihn am Schluss für sich behält?
Frederik Hanssen versteht diese Art des Sprechens über Kunst, über Musik, das Kritisieren als Ideenaustausch. Die Figur des Kritikers fungiert seiner Meinung nach nicht mehr als Meinungsmonopolist, der finale Urteile fällt, sondern als jemand, der versucht, die Fülle an Angeboten zu überblicken und konkrete Hinweise und Empfehlungen auszusprechen. „Nutzwertjournalismus“ nennt Hanssen das. Ein bisschen wie ein Vorkoster, der seiner Leserschaft besonders appetitliche Happen vorhält – oder eben auch besonders unappetitliche in die Tonne tritt.
Kommt die Klassik zu kurz?
Hinzu komme außerdem, dass sich der Journalismus, die Zeitung, ganz gleich ob in gedruckter oder digitalisierter Form, zunehmend zu einem Medium entwickelt, das als Sprachrohr in beide Richtungen funktioniert und den Leser als Kritiker des Kritikers in die Meinungsbildung mit einschließt. Dass Geschmäcker verschieden sind, zeigt sich dann in der zweiten Hälfte des Tagesspiegel-Salons, als die Gastgeber ihre Gesprächsrunde dann auch in Richtung Publikum öffnen. Viele Wortmeldungen schnellten nach oben. Einerseits gab es Unmut über bestimmte Einschätzungen bestimmter Konzerte. Vor allem aber wurde bemängelt, dass die Klassik in der Berichterstattung des Tagesspiegels zu kurz komme.
Den Kampf um den Platz im gedruckten Blatt erlebt auch Ulrich Amling täglich. Doch auch wenn die Seiten- und die Zeilenzahl über die letzten Jahre geschrumpft seien, so sieht er heute doch vor allem eine Chance für die Berichterstattung in den neuen Medien. Die Kapazitäten des Internets sind (bis auf weiteres) unbegrenzt. Auf dieser „Spielwiese“ habe der Kritiker wie auch der Leser die Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen: „Wir alle hier teilen die Leidenschaft für Musik“, fasst Amling den Abend zusammen. „Gerade deshalb kann es bei Musikkritik zu Gefühlen verletzter Liebe kommen. Aber auf keinen Fall wollen wir aufhören, uns mit dieser Liebe auseinanderzusetzen.“
Dem können die Tagesspiegel-Leser Heinz-Michael Rosczak und seine Frau Doris (beide 69) nur beipflichten: „Uns macht diese Entwicklung Mut, und auf jeden Fall werden wir ein Blick auf das neue Klassik-Portal werfen.“ Und auch ein paar weitere Gäste notieren sich, wenn auch mit noch etwas unsicherem Blick, beim Hinausgehen die Internetadresse. „So ganz habe ich noch nicht verstanden, was ein Blog ist“, meint eine andere Leserin, „aber das ist nicht so schlimm, oder?“ Nein, das ist es nicht.
Vor allem klingt es ein bisschen nach Zukunftsmusik im Kritiker- und Kritikerleseralltag von heute. Auch wenn ab und an sicher noch ein paar schiefe Töne durchklingen werden.