"Drei Schwestern" am Berliner Ensemble: Wo die Gegenwart Hausverbot hat
Historienfilm im Breitwandformat: Leander Haußmann inszeniert Tschechows "Drei Schwestern" am Berliner Ensemble.
Er sei froh über jeden Regieeinfall, den er nicht habe, bekennt Leander Haußmann in seiner launigen Autobiografie „Buh“. Insofern müssten die Proben zu Tschechows „Drei Schwestern“ am Berliner Ensemble eine glückliche Zeit gewesen sein. Denn für Haußmanns Verhältnisse gestaltet sich der Abend tatsächlich verblüffend kalauerarm und homogen. Die Überraschung beginnt bereits damit, dass die titelgebenden Twentysomethings Olga, Mascha und Irina erstaunlich alt aussehen – im historischen Sinne. Hier wird nicht etwa, wie meist in heutigen Tschechow-Inszenierungen, im zeitlosen kleinen Schwarzen vor sich hin räsoniert, sondern stilecht an Kleidern der vorvorletzten Jahrhundertwende herumgenestelt, während man sich „nach Moskau“ sehnt. Auch die mehr oder weniger laschen Offiziere, die den Schwestern bei ihren Salonplaudereien Gesellschaft leisten, schreiten in historischen Uniformen einher – sofern sie nicht gerade aus lauter Langeweile auf dem Klavier die „Internationale“ anklimpern.
Und eine solche Tschechow-Bühne, wie sie Lothar Holler ins BE gezirkelt hat – wir blicken in einen mehrstöckigen russischen Palazzo mit antikem Mobiliar, zentraler gläserner Salon-Schiebetür und malerisch herabbröckelndem Putz –, sah man in Berlin zuletzt vor drei Jahren beim Theatertreffen. Damals war Alvis Hermanis mit seiner „Platonow“-Aufführung vom Wiener Burgtheater zu Gast.
Zu dem lettischen Regisseur, der kürzlich eine Inszenierungsverabredung am Hamburger Thalia Theater absagte, weil das Haus sich dezidiert für Flüchtlinge engagiert, hat Haußmann sich übrigens kurz vor seiner BE-Premiere geäußert. Politisch teile er Hermanis’ Haltung zwar nicht, schrieb er in der „Welt“; im Gegenteil. Aber die künstlerische Position, dass das Theater nicht (ausschließlich) Tagesaktualität verhandeln, sondern vielmehr „der Ort sein muss, an dem die Gegenwart auch mal Hausverbot hat und der Vorhang den Blick für das andere, das Abgehobene, das Undenkbare freigibt“, verteidigt Haußmann.
Auf der Hermanis-Benutzeroberfläche tendiert der Spielstil Richtung Claus Peymann
Auf dieser Zeitgeist-Verweigerungsschiene lassen sich die „Drei Schwestern“ durchaus lesen – auch, wenn sie mitnichten „abgehoben“ oder gar irgendwie „undenkbar“, sondern eher wie ein klassischer Historienbreitwandfilm mit Halb- oder manchmal auch nur Viertel-Augenzwinkern daherkommen. Haußmann ist ja als Regisseur – bekanntermaßen – kein Feinziselierer, sodass der Spielstil hinter der Hermanis-Benutzeroberfläche eher in Richtung Claus Peymann oder auch Thomas-Langhoff-Spätwerk tendiert. Olga (Laura Tratnik) greift sich zur Untermalung theatralisch an den Kopf, wenn sie von ihrer Überarbeitung im Schuldienst spricht. Schwester Irina (Karla Sengteller) strahlt noch nach der zigsten Runde auf dem Kinderkarussell, das im vierten Akt zum Einsatz kommt, so regressiv-entrückt wie beim Aufsitzen. Und auch ansonsten ist man hier gern mal ein bisschen zu laut und zu deutlich – allerdings wiederum nicht laut und deutlich genug, um sich als Verfremdungstrupp der Tschechow’schen Seelenmalereien zu erkennen zu geben. Der Abend hängt seltsam – und zumeist eben leider nicht in einem aufschlussreichen Sinne – zwischen Pathos und Pathos-Distanzierung, was über die Dauer von dreieinhalb Stunden ziemlich ermüden kann. Ganz egal, ob die Schwestern sich nun gerade vertraut im Bett aneinanderkuscheln wie in besten Kindertagen, ob die komplette Belegschaft erstaunt das Treiben eines handelsüblichen Brummkreisels verfolgt oder ob Natalja (Anna Graenzer), die übergriffige Schwägerin des Schwestern- Trios, mit einem Kerzenleuchter die Treppen auf- und ab berserkert.
Zu den vergleichsweise wenigen „Regieeinfällen“, die sich Haußmann bei den „Drei Schwestern“ gegönnt hat, gehört die Anlage des „verliebten Majors“ Werschinin. Uwe Bohm spielt den Militärdienstler mit der suizidgefährdeten Frau und den beiden kleinen Töchtern, in den sich Mascha verliebt, als eine Art Offensiv-Borderliner: schwer kalkulierbar, immer für eine verbale Grenzverletzung oder anderweitige Überraschung gut und stets aufgerissenen Auges an der Karikatur entlang. Trifft er auf Mascha (Antonia Bill), kollidiert sein ausdrücklich unangepasstes Wesen mit ihrem puren, reinen Gefühl – wobei man bei der anderen Mehr-oder-Weniger-Liebespaarung des Abends, Irina und Tusenbach (Matthias Mosbach), schon froh wäre, wenn da wenigstens etwas aufeinanderprallte. Der komplette Handlungsstrang bleibt bei Haußmann derart blass, dass man sich bei der fast finalen Duell-Ankündigung zwischen Soljony (Georgios Tsivanoglou) und Tusenbach fragt: welcher Tusenbach?
Wesentlich präsenter ist da der mit Mascha verheiratete Lateinlehrer Kulygin (Boris Jacoby), der sich hier – anders als in vielen anderen „Drei-Schwestern“-Inszenierungen dankenswerterweise nie zu einer derartigen Witzfigur herunterchargieren muss, dass seine Gattin jedwede Restachtung für ihn verliert. Im Gegenteil: Mascha bleibt Kulygin – trotz wachsender Werschinin-Neigung – abendfüllend gewogen, was eine der interessantesten Haußmann’schen Akzentuierungen ist. In diesem Sinne hätte man sich doch glatt den einen oder anderen Regieeinfall mehr gewünscht!
Wieder am 4. Und 14. Januar, 19.30 Uhr
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