Alvis Hermanis: Auf der Flucht vor Flüchtlingen
Es ist ein einmaliger Vorgang. Alvis Hermanis hat dem Hamburger Thalia Theater eine Absage erteilt, weil sich das Haus für Flüchtlinge einsetzt. Damit will der Regiestar aus Lettland nichts zu tun haben. Der Streit hat es in sich. Denn es geht um das Selbstverständnis der deutschen Bühnen.
Ein prachtvoll verfallener Landsitz, zerbrochenes Glas, abblätternde Farbe. Mit schönen, fein gekleideten Menschen nach der Mode des späten 19. Jahrhunderts. Und Bücher überall: So hat Alvis Hermanis vor ein paar Jahren an der Berliner Schaubühne Maxim Gorkis „Sommergäste“ interpretiert. Elegisch, verschlossen, eine Beletage, die sich im Untergang zu Hause fühlt. Psychologisches Theater in Breitwandformat. Seine „Platonov“-Inszenierung vom Wiener Burgtheater, ein Stück des jungen Anton Tschechow, war zum Theatertreffen eingeladen und machte Furore – mit ihrer Präzision und Schärfe und einem herausragenden Martin Wuttke in der Titelrolle.
Hermanis arbeitet derzeit an der Pariser Oper, die Berliner Staatsoper hat seine „Tosca“ im Repertoire, im Sommer wird er in Salzburg Regie führen. Der lettische Künstler, 1965 in Riga geboren, gehört zu den wenigen Regiestars, die das europäische Theater noch hat.
In diese Kunst-Welt ist ein Sprengsatz geflogen. Hermanis hat die Brandrede selber gehalten. Eine mit dem Thalia Theater Hamburg verabredete Inszenierung sagte er ab, weil das Haus sich für Flüchtlinge einsetzt. Humanitäres Engagement für Schutzsuchende, damit will er nicht in Verbindung gebracht werden. Er macht die irre Gleichung auf: Terroristen sind Flüchtlinge oder deren Kinder. Und er hat noch gesagt: „Wir wissen, dass die Pariser Tragödie sogar die Flüchtlingspolitik der deutschen Regierung beeinflusst hat. Also war der Preis, der bezahlt werden musste, bis man schließlich einen Zusammenhang von Migrationspolitik und Terrorismus einräumte, der Tod von 132 jungen Menschen in Paris.“ Als Vater von sieben Kindern sei er nicht bereit, „in einer weiteren potenziell gefährlichen Stadt zu arbeiten. Bekanntlich stammten die Täter von 9/11 aus Hamburg.“
Das ist ein Kulturbruch, ein einmaliger Vorgang. Ein Regisseur aus dem Baltikum fühlt sich von der Bundesrepublik bedroht. Er argumentiert, wie Anhänger von Pegida oder dem Front National oder Donald Trump es immer lauter tun: pauschal, Angst schürend, verantwortungslos. Er sagt abstoßende Dinge, wie man sie von Politikern der ungarischen und jetzt auch der polnischen Regierung hört, und es gibt keinen Grund daran zu zweifeln, dass er es auch so meint. Hermanis ist auf der Flucht vor Flüchtlingen.
Das Thalia Theater hat den Vorgang öffentlich gemacht. Intendant Joachim Lux erklärt, die Absage von Alvis Hermanis sei „ massiv politisch und eben nicht persönlich begründet“. Daher handele es sich nicht um eine „schützenswerte private Korrespondenz, sondern um einen geschäftlichen Vorgang von öffentlichem Belang und Interesse“. Sein Kollege Jürgen Flimm, Intendant der Berliner Staatsoper, stimmt ihm zu: „Dem Thalia Theater ist kein Vorwurf zu machen, der Intendant hat genau richtig gehandelt.“ Und Flimm, der selber einmal Thalia-Chef in Hamburg war, fügt hinzu: „Die Staatsoper hat bereits an die 30 000 Euro für Flüchtlinge gesammelt. Das ist ganz klar für die Staatsoper, dass sie sich einsetzt. Ebenso ist klar, dass Daniel Barenboim ein Benefizkonzert geben wird. Hermanis kennt diese Vorgänge nicht. Sie sind fremd für ihn. Mein größter Vorwurf an Hermanis ist, dass er nicht mit uns redet. Ich kenne ihn sehr gut, habe ihn als einen zugeneigten Menschen kennenlernen können.“
Der Schock in der Theaterwelt sitzt tief. Hermanis kündigt den Konsens auf, dass Theater pluralistisch ist, ein Freiraum und ein Schutzraum ...
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