Haußmann-Premiere am BE: Holzschnitt mit Heulboje
Tiefer Griff in die Mottenkiste Leander Haußmann fällt am BE nichts ein zu Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“.
Sage noch einer, Brecht-Inszenierungen wären nicht mehr imstande, überraschende Erkenntnisse zu liefern! Jede Wette, dass vor dem Besuch des „Guten Menschen von Sezuan“ im Berliner Ensemble selbst hartgesottene Realisten nicht ansatzweise geahnt haben, wie wahnsinnig öde zum Beispiel dramatische Beischlaf-Anbahnungen ausfallen können: Die Tabakladenbesitzerin Shen Te und der arbeitslose Flieger Yang Sun (der an diesem Punkt bereits einen szenisch ausgedehnten Suizidversuch hinter sich hat) stolpern hier in einer nächtlichen Gartenplastikstuhl-Landschaft ineinander. Weil beide Partner das Kennenlernen mit herzhaften Schlucken aus dem Flachmann feiern, verlangsamt sich ihr Artikulationsvermögen leider drastisch.
Shen Te (Antonia Bill) rutscht und krabbelt immerhin gern mal von einem Plastikstuhl zum nächsten, wobei ihre apart in Szene gesetzte Strumpfhose stets neue Zerrissenheitsgrade präsentiert. Der Flieger (Matthias Mosbach) scheint dagegen auf Spirituosenzufuhr mit temporären Gesichtsmuskellähmungen zu reagieren: Mit schief gezogenem Mund hängt er in seiner Lufthansa-artigen Uniform auf dem Billiggartenmöbel fest. Bald taumeln die beiden in-, bald auseinander, wieder ein paar Millimeter aufeinander zu und so fort. Große Erleichterung im Parkett, als sie nach gefühlten Stunden endlich irgendwo zwischen den Stühlen aufeinander liegen bleiben.
Haußmann war am BE mit Shakespeares „Hamlet“ und Büchners „Woyzeck“ zuletzt sehr interpretationsfreudig
Leider ist Leander Haußmanns Brecht-Inszenierung „Der gute Mensch von Sezuan“ nicht nur in dieser Szene von einer unglaublichen Zähigkeit. Nicht, dass nicht jedem ernst zu nehmenden Zeitgenossen klar wäre, wie schwer das reißbretthafte Parabelstück heute zu inszenieren ist. Das beginnt schon beim eng gefassten Gütigkeitsbegriff, mit dem die Prostituierte Shen Te gegen die Schlechtigkeit der Welt antritt, als sie von den Göttern einen Tabakladen spendiert bekommt. Das im vorliegenden Inszenierungsfall ganz besonders aufopferungsvolle Latex- und Rothaarperückengirl gewährt nicht nur allen Erniedrigten, Beleidigten und Ausgestoßenen Obdach und freies Essen, sondern lässt sich derart von ihnen ausnutzen, dass das Lädchen bald auf die Pleite zusteuert.
Und natürlich werden die Inszenierungsherausforderungen nicht kleiner, wenn der holzschnittig kaltherzige Ausbeuter Shui Ta auf den Plan tritt, in den sich Shen Te bei Brecht regelmäßig verwandeln muss, um ihre Existenz zu retten.
Der schauspielerische Peymann-BE-Stil hat auch diese Haußmann-Inszenierung befallen
Man hatte sich, in diversen Richtungen, auf einiges gefasst gemacht im Vorfeld dieses Abends. Nicht nur weil Haußmann seinen Regie-Kumpel Frank Castorf jüngst in der Werktreue-Auseinandersetzung um dessen Münchner „Baal“-Inszenierung öffentlich unterstützt hatte. Sondern auch weil er zuletzt am BE mit Shakespeares „Hamlet“ und Büchners „Woyzeck“ Abende zeigte, die zwar nicht jedermanns Sache, aber von unbestrittener Interpretationsfreudigkeit waren.
Womit man, zumindest in diesem Ausmaß, zuallerletzt gerechnet hatte: dass Haußmann zum „Guten Menschen“ einfach gar nichts einfällt. In überraschender Biederkeit zieht sich die bühnenbildlich vom Künstler Via Lewandowsky illustrierte Story über knappe vier Stunden dahin. Dass sich der Regisseur nicht entscheiden kann, ob er den Plot karikieren oder auf ein rührseliges Girl-meets-Boy- und-wird-verarscht- Melodram herunterbrechen soll, ist da im Grunde auch egal: So oder so entstammen die Inszenierungsmittel dem tiefen Griff in die Mottenkiste.
Angesichts der stereotypen Heulbojenhaftigkeit, in die sich beispielsweise Shen Te im Laufe des Abends hineinsteigern muss, ließe sich bei der nächsten „Hart aber fair“-Auflage zum Gender-Thema wohl selbst der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki zum glühenden Verfechter wissenschaftlicher Geschlechterforschungsnachhilfe bekehren. Überraschend auch das mimische Spießer-Komödienstadl, mit dem der gefühlt häufigste Spielzug – der ebenso geschlechtsübergreifend wie praktisch in jeder Lebenslage zum Einsatz kommende Griff in den Schritt – hier jedes Mal einhergeht.
Wer Leander Haußmanns treffsichere Typen-Kinokomödien à la „Sonnenallee“ kennt, dürfte sich ferner schwer die Augen reiben ob der Prekariatsfolklore, die Shen Te jetzt in ihrer Tabakladen-Glasbox abfeiert: Die Leoprint-Trägerinnen und Dederonbeutel-Schüttler, die offenbar direkte hiesige und heutige Nachbarschaft suggerieren sollen, wirken eher so, wie man sich Berlin vor Jahren in Detmold vorstellte. Nicht, dass etwa unter Traute Hoess’ verschlagener Witwe Shin oder Norbert Stöß’ Wasserverkäufer Wang nicht momentweise aufschiene, wie es idealiter sein könnte. Aber alles in allem scheint der schauspielerische Peymann-BE-Stil – das dreifach unterstrichene mimisch-gestische Herzeigen dessen, was man parallel gerade laut und deutlich sagt – auch diese Haußmann-Inszenierung befallen zu haben. Und das bleibt sie dann leider auch, die einzige nennenswerte Erkenntnis aus diesem Brecht-Abend.
Wieder am Montag, 14. 9. sowie am 29. September.
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