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"Wenn man das Universum eines Films erschaffen will, dienen alle einer gemeinsamen Vision": Schauspielerin Juliette Binoche.
© REUTERS

Juliette Binoche im Gespräch: „Wir sind Künstler, keine Soldaten“

Heute Abend wird die Berlinale eröffnet. Eine Begegnung mit Juliette Binoche, dem Star des Festival-Eröffnungsfilms „Nobody Wants the Night“.

Juliette Binoche, es heißt, Sie rufen manchmal Regisseure an, mit denen Sie arbeiten wollen, und schlagen ihnen Projekte vor. War das auch so bei Isabel Coixet und „Nobody Wants the Night“?

Nein, gar nicht. Vor einigen Jahren hatten wir mal einen gemeinsamen Plan, der hat sich zerschlagen. Später sah sie mich in dem Film „Camille Claudel“, sie war sehr bewegt, und am Telefon bot sie mir die Rolle in „Nobody Wants the Night“ an und sagte, wenn du nicht dabei bist, mache ich den Film nicht. Das fand ich radikal, das hat mich neugierig gemacht. Dann las ich das Drehbuch von Miguel Barros und fand darin eine Kraft, die auf den Grund des menschlichen Wesens geht. Und dazu die Unendlichkeit der arktischen Natur!

Ihre Filmfigur Josephine ist die Ehefrau des Polarforschers Robert Peary, die ihrem Mann nach Grönland hinterherreist. Das ist damals tatsächlich geschehen. Recht unerschrocken, dieser Frauentypus, Anfang des 20. Jahrhunderts.

Robert fungiert als der männliche Pol für Josephine, vor allem aber wird sie in diesem Niemandsland mit sich selbst konfrontiert. Es ist ein intimer Film zwischen zwei Frauen, und er ist auch emotional sehr extrem. Wir sind dann selber wie in ein Abenteuer gestartet – mit einem eher kleinen Budget vor dem Hintergrund, aufwendig unter realen Bedingungen in solcher Kälte zu drehen.

Die andere Frau ist eine junge Inuit. Sie erwartet ein Kind von Robert, und das ist der fundamentale Verrat, den ein Mann an seiner Frau begehen kann ...

... sogar ein Verrat an der Liebe, Roberts Verrat auch an sich selber.

Inwiefern?

Wenn man heiratet, bindet man sich in einem gemeinsamen Ja, gegen Wind und Wellen. Bricht man dieses Versprechen, betrügt man zwar den anderen, verrät damit aber vor allem sein eigenes Ja. Andererseits können wir Menschen unser Herz und unseren Körper nicht in einen Kühlschrank sperren. Man muss also lernen, sich zu versöhnen, zu verzeihen, eine Entfernung einzunehmen, anders zu lieben, den anderen in seiner Schwäche und Vollständigkeit zu sehen. Wer diese Prüfungen besteht, wächst über sich selbst hinaus.

Das klingt sehr grundsätzlich. In welcher Weise gilt das für Ihre Filmfigur?

Am Anfang ist Josephine richtig wütend. Sie sitzt da am Ende der Welt, sie friert, sie ist hungrig, sie hat sogar ihre Tochter in Washington zurückgelassen, und jetzt das. Zumal es damals für eine verheiratete Frau wie sie undenkbar war, selber untreu zu sein. In ihren Schriften sprach Josephine Peary übrigens niemals von diesem Betrug, nur einmal in einem Brief. Da heißt es, sie fühlte sich wie ermordet.

Was macht den Stoff so verfilmenswert, über die Exotik des Settings hinaus?

Josephine geht durch alle Gefühlsgewitter hindurch, durch den Hass, die Eifersucht, die Mordlust, aber dann erkennt sie das Menschliche in der Inuitfrau. Die Härte des Klimas meißelt den Urgrund des Menschseins heraus, und in diesem Augenblick gibt es eine Art Umkehr in Josephine selbst. Wozu die Rivalin verjagen, wenn die den Verheiratungskodex gar nicht kennt und folglich nicht begreifen kann?

Ist diese Geschichte einer Annäherung feministisch zu verstehen?

Um die damalige Jahrhundertwende hatten viele Frauen es satt, bloß „nettes Mobiliar“ zu sein – in den USA, in England, Skandinavien, auch in Frankreich. Josephine Peary gehörte zu dieser Frauenrechtsbewegung, sie hat selber Vorträge gehalten. Andererseits war sie keine Draufgängerin, sondern dachte ganz bürgerlich. An der Seite ihres ehrgeizigen Mannes hatte sie den Ehrgeiz, eine Familie zu führen, obwohl die beiden insgesamt 20 Jahre lang getrennt waren.

Sie selber haben zuletzt verstärkt mit Regisseurinnen gearbeitet, mit Malgorzata Szumowska für „Das bessere Leben“, und jetzt mit Isabel Coixet. Arbeiten Regisseurinnen anders?

Nein. Wenn man das Universum eines Films erschaffen will, dienen alle einer gemeinsamen Vision. Es gibt da etwas Unantastbares, Unnennbares jenseits des Drehbuchs. Es hat mit Leidenschaft, Geduld, Zuhören, mit purer gemeinsamer Anwesenheit am Drehort zu tun.

Zuletzt wurde in Frankreich kritisch über die geringe Zahl von Regisseurinnen auf Festivals diskutiert, etwa in Cannes, und in Deutschland gibt es die Initiative ProQuote-Regie.

Beim Dreh zählt das nicht. Wenn ich gefilmt werde, erfahre ich einen kreativen Druck, und ich gebe etwas zurück. Das ist wie beim Tango, ein Tanz zwischen diesen beiden Polen. Die Entscheidungen eines Regisseurs erfordern eine eher maskuline Energie, und im Echo des Schauspielers ist das Feminine enthalten. Oder nehmen Sie die beiden Pole Adam und Eva, das sind ja nicht Mann und Frau, sondern das Männliche und Weibliche in jedem von uns, das eins werden will. Wenn man das begriffen hat, heißt es nicht mehr: Kein Wunder, da inszeniert ein Mann! Oder: eine Frau, typisch! Es gibt sehr weibliche Regisseure, sie beobachten und lassen die Schauspieler machen. Und es gibt Regisseurinnen, die viel reden und aktiv steuern.

Regisseurin Isabel Coixet (l.) und die französische Schauspielerin Juliette Binoche (r.)
Regisseurin Isabel Coixet (l.) und die französische Schauspielerin Juliette Binoche (r.)
© AFP

Welcher Typ ist Isabel Coixet?

Sie lässt eher geschehen. Manchmal habe ich absichtlich locker gelassen, damit sie entscheidet. Damit sie eine Haltung einnimmt.

Und, hat der Trick funktioniert?

Manchmal schon, denn sie ist es ja, die den Film am Ende signiert. Es ist zwar gut für die Energie am Set, wenn so die Magie des Lebens hinzukommt. Aber man muss auch Entscheidungen treffen. Andererseits habe ich gerade mit Piero Messina gedreht, „L'attesa“, es ist sein Debüt, und er wollte alle bloß dirigieren. Er musste lernen loszulassen.

In Ihren beeindruckendsten Filmen vollziehen Sie mitunter selber Rollenwechsel, etwa in „Die Liebesfälscher“ von Abbas Kiarostami oder zuletzt in Olivier Assayas' „Die Wolken von Sils Maria“.

Solche Angebote sind faszinierend, weil sie so nah am wahren Lebensgefühl dran sind. Ob wir schlafen oder wachen, immer führen wir parallele Leben. Wo ist da die Realität? Was brauche ich tatsächlich, und welche Masken streife ich meinen Wünschen über, um in der Gesellschaft zurechtzukommen? Wenn man in einem Film mit dem Gelebten und dem Imaginierten spielen kann, ist das großartig, weil man diese Referenzen ja mitbringt. Wir Schauspieler stecken sowieso mitten im Existenziellen. Wir sind leibhaftige Philosophen, die sich immer wieder fleischlich, ja, zellbiologisch über Gefühle und Ideen befragen müssen. Wir haben einen schön vollständigen Beruf.

Der Regisseur Alejandro González Iñárritu meint, es gibt nur zwei Sorten Schauspieler: Sie arbeiten von außen nach innen – oder umgekehrt. Wo situieren Sie sich?

Eine Frucht hat eine Schale und einen Kern. Wenn man die Frucht von außen betrachtet, muss man sich den Kern vorstellen, also etwas konstruieren. Wenn man nur den Kern hat, ohne Frucht, reicht das auch nicht. Ich beginne gern von innen, weil ich mich dann nicht irren kann. Ich gerate nicht auf Abwege. Anders gesagt, ist der Körper für mich wahrer als der Kopf. Nichts gegen dessen göttliche Ideen, aber der Körper mit seinen Sinnesempfindungen leitet einen besser. Wenn all die geschriebenen Wörter gut in ihn einsickern sollen, muss ich das übliche physische Verteidigungssystem hinter mir lassen. Nur so erschaffe ich eine Figur.

Haben Sie noch manchmal Selbstzweifel wie am Anfang Ihrer Karriere? Damals sagten Sie, dass Sie sich auf der Leinwand nicht mögen.

Ich gucke meine Filme auch heute selten. Manchmal schneidet der Regisseur Szenen raus, oder er stellt sie um und greift damit in eine organische Entstehung ein. Und das schmerzt. Schauspieler sind Künstler, keine Soldaten.

Auch das Älterwerden kann ein Grund sein, nicht so gerne in den Spiegel eines Films zu sehen.

Ich ändere mich körperlich, ja. Und im Film ist das Licht oft anders als vorm Schminkspiegel. Ich staune dann schon mal, wie ich ausgeleuchtet worden bin am Set. Das kann einen aufwühlen, dieser Unterschied zwischen der inneren Vorstellung und dem tatsächlichen Äußeren, das sind zwei Welten. Andererseits entdeckt man sich neu, wenn man sich so zu akzeptieren lernt. Und wenn die innere Präsenz in einer Szene vorhanden ist, hat das Aussehen keine Bedeutung.

Erwischen Sie sich noch dabei, andere zu bewundern? Schauspieler – oder auch Regisseure, die Sie erobern wollen?

Erobern wie den Nordpol? (lacht) Es gibt Wünsche, aber ich glaube, die Dinge ergeben sich von selbst, wenn man bereit dafür ist, das Leben sorgt schon dafür. Hirokazu Kore-eda aus Japan ist ein Meister, mit dem ich eines Tages gerne arbeiten würde. Oder der Chinese Jia Zhang-ke. Da ist schon seit einer Weile die eine oder andere Flaschenpost unterwegs.

Ein Film von Michael Haneke, in dem Sie mitspielten, heißt „Code: Unbekannt“. Wäre das schön, unbekannt zu sein?

(schweigt lange) Sie meinen im Alltag, draußen im Leben? (schweigt weiter)

Wenn Sie mögen, antworten Sie allgemeiner, als „leibhaftige Philosophin“.

Als ich 18 war, hat mein Theaterlehrer gesagt, man entwickelt sich nur durch Trennung. Das fand ich damals schlimm. Aber er hatte recht, man muss sich häuten wie eine Schlange. Man sucht sich selbst, lebenslang, man geht immer weiter diesem Ich entgegen, Schritt für Schritt, aber man ist sich niemals sicher. Man bewahrt das Unbekannte in sich auf.

Das Gespräch führte Jan Schulz-Ojala

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