Historiker Orlando Figes zu Russlands Politik: „Wir sind in einem neuen Kalten Krieg“
Putin, Stalin und die Angst als Konstante der russischen Politik – ein Gespräch mit dem in London lehrenden Historiker Orlando Figes.
Mister Figes, nach Ihrer These endet das Jahrhundert der Russischen Revolution 1991. Aber gab es nicht auch danach noch Kontinuitäten – etwa die Bereitschaft, Gewalt als Machtmittel einzusetzen wie jetzt in der Ukraine?
Russland ist gefangen in den Mustern seiner Geschichte. Dazu gehört, Gewalt als Mittel für das Erreichen von nationalen Zielen einzusetzen. Dabei geht es aber nicht mehr um revolutionäre Ziele, sondern darum, Russland als Großmacht wiederauferstehen zu lassen. Autoritäre Staatstraditionen sind in einer Art zurückgekehrt, mit der noch vor wenigen Jahren niemand gerechnet hatte. Eine erschütternde Umfrage zeigt, dass die Russen mehrheitlich zwar wissen, wie viele Millionen Menschen von der Tscheka, dem KGB oder dem NKWD umgebracht wurden. Trotzdem finden sie, dass der Staat das Recht habe, seine Interessen durch solche Geheimdienstorganisationen durchzusetzen. Bis zu einem gewissen Grad setzt Putin das Erbe der sowjetischen Vergangenheit fort.
War der Mord an Boris Nemzow ein Warnsignal an die Opposition, in guter alter stalinistischer Tradition?
Er war ein Signal, das die Menschen in Russland verstanden haben. Seit Stalin ist diese Tradition, die Angst vor Gewalt und Repressionen, von Generation zu Generation weitergegeben worden, bis sie fast zu einem Bestandteil der persönlichen DNA wurde. Und ich fürchte, dass das Signal wirkt. Die Teilnahme an der posthumen Demonstration für Nemzow war relativ gering.
Die Hauptfigur Ihres Buches ist Stalin. Warum beherrscht er so sehr die russische Geschichte des 20. Jahrhunderts?
Stalin steht im Zentrum meines Narrativs, weil das System, das er nach Lenins Tod erschuf, zum Sowjetsystem schlechthin wurde, über seinen Tod hinaus. Die Staatswirtschaft, die brutal forcierte Industrialisierung, das Konstrukt des Staatsapparats, die Unterwerfung anderer Nationalitäten unter das Sowjetregime – das alles hatte bis zum Untergang des Kommunismus 1991 Bestand. Als Chruschtschow 1956 die Entstalinisierung ankündigte, hätte er eine Revolution in Gang setzen müssen, um das ganze System hinwegzufegen. Das ging natürlich nicht, deshalb wurde er bald abserviert.
Hat nicht auch die Kultur der Angst Stalins Tod überlebt?
Natürlich, das war auch der Grund dafür, dass das Regime nach 1956 sich erneut stabilisieren konnte. Die Angst hatte sehr viel Macht, die Sowjetbürger haben sie nicht ständig empfunden, aber sie hat sich tief in ihre Seelen hinabgesenkt. Die Kultur der Angst verhinderte das Entstehen einer politischen Opposition, sie verhinderte sogar, dass die Menschen sich bewusst machten, was in ihrem Land geschah, und darüber sprachen. Daraus entstand eine Art indirekter Akzeptanz. Man könnte es als Loyalität zu dem System bezeichnen, sogar bei den Menschen, die unter dem System litten. Das System konnte weiter existieren, obwohl niemand mehr daran glaubte, nicht einmal die Anhänger. Ein Teil dieser Angst hat bis heute in Russland überlebt. Es ist eine Angst, die nicht bewusst empfunden wird, aber sie ist da, als Erbe des Kommunismus, das dazu führt, Autorität zu akzeptieren, der Staatspropaganda zu glauben, keine Fragen zu stellen.
Stalin litt an Paranoia und sah überall Feinde. Wie konnte ein Psychopath dreißig Jahre lang regieren?
Ob er im klinischen Sinne ein Psychopath war, wissen wir nicht. Das ist auch eher unwahrscheinlich. Aber es gibt viele Geschichten und Anekdoten, die zeigen, dass er durchaus paranoid auftreten konnte, dass er gnadenlos Menschen ausschalten ließ und persönliche Vendetten begann. Ein Wendejahr war für ihn 1932, als eine innerparteiliche Opposition gegen ihn aufbegehrte und seine Frau Nadeschda sich umbrachte. Sie war während eines Banketts im Kreml nach einem Streit mit Stalin aus dem Saal gestürmt und hatte sich erschossen. Nadeschda hinterließ einen Brief, in dem sie ihren Mann politisch attackierte. Er reagierte mit Säuberungen in der Partei. Die Paranoia war systemimmanent, eine Angst, die darin begründet war, dass die Revolution sich ständig von äußeren und dann auch inneren Feinden umstellt sah. Schon bei Kindern hatte sich die Unterscheidung in „Genossen“ und „Feinde“ durchgesetzt.
In russischen Schulbüchern wird Stalin heute als „effektiver Manager“ gerühmt, der sein Land modernisiert habe. Bewundert Putin Stalin?
Nein, ich glaube nicht, dass Putin ein Anhänger der alten Zeiten ist. Das Bild von Stalin als „Manager“ stammt aus den neunziger und nuller Jahren, einer Zeit starker ideologischer Kämpfe, nachdem für die Russen die alten Gewissheiten der kommunistischen Ära zerbrochen waren. Es gibt unter Putin das Bestreben, das Verhältnis zu Stalin zu „normalisieren“. Allerdings werden die Verbrechen dabei nicht ausgeblendet. Nur dass sie in den Schulbüchern auch schnell wieder relativiert werden, indem man ihnen die „Errungenschaften“ des Stalinismus gegenüberstellt. In einer Rede vor Lehrern hat Putin die „problematischen Seiten“ der russischen Geschichte erwähnt, aber auch gesagt, sie seien nicht so schlimm im Vergleich zum Abwurf der Atombombe oder der Eskalation des Vietnamkriegs. Die Rede war Teil des Versuchs, den Russen ein neues Selbstbewusstsein zu geben. Putin geht es um einen Nationalstolz, der auch die Sowjetära einschließt.
Nach einer Umfrage wünschen sich 42 Prozent „einen Führer wie Stalin“. Warum?
Stalin war zu Lebzeiten gleichermaßen autoritär wie populär. Blendet man die Verbrechen aus, ist das eine verführerische Mischung. Ältere Russen wünschen sich einen Führer wie Stalin, weil sie sich nostalgisch an ihre eigene Vergangenheit in der Sowjetunion erinnern. Sie verbinden Stalin mit einer Zeit, in der die Sowjetunion ein großes, starkes Land war und Hitler-Deutschland besiegte. Und viele jüngere Russen sind bereit, ihre persönliche Freiheit, demokratische Verhältnisse und andere „westliche Werte“ gegen Sicherheit und wirtschaftliche Stabilität einzutauschen. Die Frage ist, ob sie diesen Verzicht auch dann noch hinnehmen, wenn es, bedingt etwa durch die Sanktionen des Westens wegen des Krieges in der Ukraine, keine ökonomische Stabilität mehr gibt.
Putin hat kürzlich geprahlt: „Niemand ist Russland militärisch überlegen.“ Will er sein Land wieder zur Supermacht machen?
Russland hat seine Militärausgaben deutlich gesteigert, in der Außenpolitik tritt es wieder aggressiv auf. Auch die Kunst, Nachbarstaaten zu destabilisieren, beherrscht es noch immer. Der Krieg in der Ukraine ist dafür das beste Beispiel. Aber Putin hat gewiss nicht vor, die Sowjetunion zu restaurieren. Sie endete 1991 in einem Kollaps, der eine Katastrophe war. Aber er möchte Russland zu einer starken Macht machen, der sich die Nachbarn unterzuordnen haben. Das macht ihn populär. Ich war verwundert, wie viele Russen, die ich vor 20, 25 Jahren als erklärte Sowjet-Gegner kennenlernte, nun eingefleischte Putin-Anhänger sind.
Droht ein neuer Kalter Krieg?
Wir sind bereits in einer Art neuem Kalten Krieg. Es gibt wieder klare Fronten, eine Trennung zwischen Russland und dem Westen. Russland hat die Osterweiterung der Nato als Erklärung eines neuen Kalten Krieges aufgefasst. Es wird seine Politik der Destabilisierung seiner angrenzenden Staaten fortsetzen, um den Einfluss der Nato einzudämmen. Es gibt aber auch gravierende Unterschiede zum Kalten Krieg vor 1989. So stoßen heute zwar Werte aufeinander, doch von einem Kampf der Ideologien kann man nicht sprechen. Es gibt keine Heilslehre mehr, die die Russen in der Art der Sowjetunion in die Welt exportieren möchte.
Das Interview führte Christian Schröder.
Zur Person: Orlando Figes, 54, zählt zu den besten westlichen Kennern der russischen Geschichte. Er studierte in Cambridge und ist heute Professor für Neuere und Neueste russische Geschichte am Birkbeck College der University of London. Sein Buch Die Flüsterer verfolgt auf mehr als 1000 Seiten das Schicksal der Opfer von Stalins Gulag-System. Aus Angst haben die Menschen damals nur noch geflüstert. Der Band wurde in rund zwanzig Sprachen übersetzt. Soeben ist bei Hanser Berlin Figes’ neues Buch "Hundert Jahre Revolution" erschienen. Es untersucht ein Jahrhundert von Fanatismus und Gewalt bis zum Ende der Sowjetunion 1991.
Christian Schröder