Kultur: Lew und Sweta
Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Orlando Figes erzählt eine Liebesgeschichte im Gulag.
Immerhin gibt es ja Stalin, pflegte Lews Tante Olga zu sagen, wenn sich irgendeine Ungerechtigkeit ereignete.“ Ihr Neffe Lew Mischtschenko, dessen gutgläubig naive Tante der britische Historiker Orlando Figes hier zitiert, saß da unschuldig zum Tod verurteilt und zu zehn Jahren Lagerhaft „begnadigt“, in Stalins Gulag. Es war eines der auf Stalins Geheiß üblichen Terrorurteile gegen heimkehrende Sowjetsoldaten aus deutscher Kriegsgefangenschaft, die pauschal der Kollaboration mit dem Feind bezichtigt wurden. In Lews Fall, der in Wahrheit allen Anwerbungsversuchen als Spion widerstanden und bei seiner Befreiung durch die Amerikaner sogar das Angebot einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung („Green Card“) für die USA abgelehnt hatte, genügte eine ungeprüfte Denunziation durch einen früheren Mitgefangenen, um ihn in einem Schnellverfahren von 20 Minuten wegen Hochverrats zu verurteilen. Dass dafür Stalin verantwortlich war, wollte Tante Olga offenbar so wenig wahrhaben wie Millionen deutscher Tanten Hitlers Verantwortung für Nazi-Untaten, die sie mit einem „wenn das der Führer wüsste“ zu quittieren pflegten.
Nein, umgekehrt wird ein Schuh draus: Für den Großen Terror und den Archipel Gulag war Stalin persönlich verantwortlich, wie wir heute wissen. Aber – um Tante Olgas Diktum vom Kopf auf die Füße zu stellen – immerhin gab es ja Lew Mischtschenko und seinesgleichen, deren guter Glaube und unbeirrbarer Patriotismus die eigentliche Kraftquelle für das Überleben des russischen Volkes waren. Es ist ihnen schlecht gelohnt worden. Auch dass Lew Mischtschenko achteinhalb Jahre Lager überstand und ein kleines Happy End mit seiner Liebsten und späteren Ehefrau Swetlana, Sweta genannt, erlebt hat, war allein ihrer unbeirrbaren Treue zu sich selbst zu verdanken. Wie es den beiden gelang, Zensur und Lageraufsicht zu überlisten, um eine zweitausend Briefe umfassende Korrespondenz und sogar heimliche Besuche Swetas im Lager Petschora am Polarkreis zu ermöglichen, berichtet Orlando Figes in seiner – so der Untertitel – Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors. „Diese Briefe“, schreibt Figes im Vorwort, „waren nicht nur wegen ihrer Menge bemerkenswert, sondern vor allem deshalb, weil niemand sie zensiert hatte. Freiwillige Arbeiter und Funktionäre, die mit Lew sympathisierten, hatten sie in das Lager hinein- und aus ihm herausgeschmuggelt.“
Lew und Sweta sind 2008 und 2010 verstorben. Orlando Figes hat die beiden 2008 noch selbst in Russland besuchen und für sein Buch befragen können. Ihre Lagerkorrespondenz verwahrt die Stiftung Memorial, durch die der Historiker 2007 diese „Liebesgeschichte ohnegleichen“, so das Urteil seiner russischen Kollegen, kennenlernte. Das Urteil ist nicht übertrieben, wenn man die zerstörten Lebensläufe von Millionen Gulag-Opfern kennt, die für Jahrzehnte, wenn nicht für immer von ihren Angehörigen getrennt und aus ihrer beruflichen Laufbahn gerissen wurden. Dass Lew Mitschurin in seinen Beruf als Physiker zurückkehren konnte und mit seiner Swetlana noch ein spätes Familienglück mit zwei Kindern erlebte, war tatsächlich ein Glücksfall ohnegleichen.
Er begann schon damit, dass Lew durch seinen technischen Beruf in einem Labor des dem Lager angeschlossenen Holzkombinats unterkam, dessen Leiter – ein Häftling wie er – ihm Schutz und Vertrauen gewährte. Er deckte sogar als Mitwisser Lews geheime Kontakte mit Sweta und seiner Familie. Das Vergehen des Laborleiters Strelkow war übrigens die geheime Ausrüstung zweier Schiffe mit Hilfsgütern für die Insassen des Lagers Kolyma gewesen, die vom NKWD abgefangen wurden. Dafür war er zum Tode verurteilt und zu 25 Jahren Lagerhaft „begnadigt“ worden. Als er kurz nach Lew Mischtschenko 1954 entlassen wird, sieht er für sich keine Perspektive mehr für eine Rückkehr in den sowjetischen Alltag. Als desillusionierter, aber immer noch gläubiger Altbolschewik, so berichtet Figes, „hatte er beschlossen, weiterhin im Holzkombinat zu arbeiten. Er übernahm den relativ gut bezahlten Posten eines stellvertretenden Schichtleiters zu einer Zeit, als das Arbeitslager unter der Aufsicht des Verkehrsministeriums in ein Industrieunternehmen verwandelt wurde“. Strelkow starb 1976 in Petschora, vier Jahre bevor das Holzkombinat niederbrannte und stillgelegt wurde. Zur Heirat von Lew und Sweta kam er nach Moskau, um den beiden ein Hochzeitsgeschenk zu machen.
Wie schwer die Lagerhypothek noch immer auf seinem Leben lastete, musste Lew erfahren, als er zunächst weder Arbeit fand noch eine Zuzugsgenehmigung nach Moskau erhielt. Erst nach einer Amnestie für angebliche Kollaborateure fand er eine Stelle als Ingenieur. Noch bei der Registrierung ihrer Ehe im Herbst 1955 riet die Standesbeamtin Sweta ab, ihr Leben durch die Ehe mit einem ehemaligen Häftling zu ruinieren. „Sweta lächelte: ,Schon gut. Tragen Sie seinen Namen als den meines Mannes ein’.“ Immerhin gab es ja Stalin nicht mehr.
– Orlando Figes: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne. Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors. Hanser Berlin, Berlin 2012. 376 Seiten, 24,90 Euro.
Hannes Schwenger
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