Wim Wenders im Gespräch: „Wir sind die letzten Abenteurer“
Interview mit einem Weltbürger: Wim Wenders erhält dieser Tage auf der Berlinale den Ehrenbären für sein Werk - und zeigt „Every Thing Will Be Fine“.
Herr Wenders, Sie laufen dieser Tage mehrfach über den roten Teppich am Potsdamer Platz. Gibt es in Ihrem Kopf auch noch den anderen Potsdamer Platz, die Brachfläche, über die Peter Falk in „Der Himmel über Berlin“ spaziert?
Das bleibt für mich ein Puzzlebild, für das ich aber alle Stücke kenne. Ich fahre oft mit dem Rad vom Brandenburger Tor am Holocaust-Mahnmal entlang zum Potsdamer Platz. Da weiß ich dann noch genau, wo die Mauer entlangging und wo ein Stück weiter der Monorail verlief, diese Teststrecke für die Magnetbahn. Als Fixpunkte beim Drehen hatte ich damals nur das Weinhaus Huth und das später verschobene Hotel Esplanade ...
... in dem auch gedreht wurde.
Ich hab ja selber den Startschuss für die Verschiebe-Aktion gegeben. Viele Leute schauten zu, Fernsehkameras waren da, ich schoss in die Luft – aber es bewegte sich nichts. Ein saublödes Gefühl. Am nächsten Tag klappte es, aber da guckte kein Mensch mehr zu.
Sie haben einmal gesagt: Das Kind, das man einmal war, steckt immer noch in einem. Gilt das auch für Orte?
Ich habe jedenfalls ein ausgeprägtes Ortsgefühl. Wenn ich mal wo war, kenne ich mich aus und weiß, wo’s langgeht. Ich erinnere mich auch an höchst unnötige Sachen, an jedes Hotelzimmer, in dem ich mal übernachtet habe, daran, was an der Wand hing und wo die Sessel standen. Wenn ich einen Ort gut verstehe und mag, dann weiß ich auch wie von selbst, wie die Kamera ihn aufnehmen soll.
Mit welchen Berliner Orten sind Sie einverstanden, mit welchen nicht?
Ich bin mit Berlin im Großen und Ganzen einverstanden und würde nirgendwo anders leben wollen. Richtig wohl gefühlt habe ich mich nach dem Fall der Mauer von Anfang an im Scheunenviertel. 1990/91 bin ich dort viel rumgelaufen, vor allem die Straßen um den Hackeschen Markt mochte ich gerne. Wir haben „In weiter Ferne, so nah!“ 1992 fast ausschließlich da gedreht. Heute ist das ein richtiges Touristenparadies geworden. Die Entscheidung, aus Amerika ganz zurückzukommen und nach Mitte zu ziehen, hatte auch mit diesem Gefühl zu tun: Hier will ich gern hingehören.
Sie werden mit dem Ehrenbären und einer Hommage gefeiert, etliche Ihrer Filme wurden gerade restauriert. Sich darum zu kümmern, dass sein Werk nicht verloren geht – ist das nicht seltsam?
Die Filme sind ein bisschen wie meine Kinder, ich fühl’ mich für die verantwortlich. Das geht jetzt sogar besser, seit sie niemandem mehr privat gehören, auch nicht mir, sondern der Wim-WendersStiftung. Sie gehören jetzt für alle Zeit „sich selbst“ und der Öffentlichkeit. Ich finde aber nicht, dass sich da etwas historisiert. Eher umgekehrt: Die Geschichte hat Schaden angerichtet, und der ist behoben worden. „Alice in den Städten“ ist über 40 Jahre alt – und war fast tot. Unerfahren, wie wir waren, haben wir damals über 100 Kopien vom Negativ gezogen, der Film war zerschreddert. Es gab keine zehn Zentimeter, die nicht der nackte Horror waren. Laufschrammen, Risse, kaputte Klebestellen – die Wiederherstellung hat fast ein Jahr gedauert ...
Sie sagen, mit „Alice in den Städten“ seien Sie Filmemacher geworden. Es war doch Ihr vierter Film!
Aber der erste mit meiner eigenen Handschrift. Mein Hochschul-Abschlussfilm „Summer in the City“ war eine Art Cassavetes-Verschnitt. Mit „Die Angst der Tormanns ...“ hab ich versucht, einen Hitchcock-Film zu drehen, in dem nichts passierte, „Der scharlachrote Buchstabe“ war ein Historienschinken. Ich fragte mich also: Kann ich nur andere Leute nachmachen? Wenn ich vorher im Hotel meinen Beruf eintragen sollte, habe ich nie „Filmemacher“ oder „Regisseur“ geschrieben. Mit „Alice“ wusste ich: Das ist jetzt nur meins, so kann oder darf ich weitermachen.
Hat das heutige Deutschland noch etwas mit dem Ihrer 70er-Jahre-Filme zu tun?
Wenig. Man sieht es vor allem bei „Im Lauf der Zeit“. Diese Deutschlanddurchquerung entlang der Grenze war eine Reise in ein aus der Zeit gefallenes Land. Das „Zonengrenzgebiet“ war Schmerzensland, melancholisch und verloren: ein Niemandsland im Herzen Europas. Letztes Jahr bin ich die Strecke noch mal gefahren: Was damals Diaspora war, ist wieder mitten in Deutschland.
Wie hat sich denn das Arbeiten an einem Film im Lauf der Jahre verändert?
Ich versuche damals wie heute, meine Arbeit immer neu zu erfinden. Etwas zu machen, bloß weil man weiß, wie es geht, das ist eine Falle. Gut, man macht dieselben Fehler nicht noch mal. Und vieles ist schlicht nicht mehr zu vergleichen, etwa die Arbeit mit den Schauspielern.
In „Every Thing Will be Fine“ spielt James Franco die Hauptrolle.
Er hat eine gründliche Ausbildung und ein verinnerlichtes Selbstverständnis von seiner Arbeit. Wir in den Siebzigern hingegen haben alles gemeinsam entdeckt. Hanns Zischler war Dramaturg und Verleger, Rüdiger Vogler in „Alice“ oder Bruno Ganz im „Amerikanischen Freund“ waren Theaterschauspieler und haben ihre ersten Filme mit mir gemacht. Für viele von ihnen war das Filmschauspielen nur eine andere Art, sie selbst zu sein. Nichts war „hergestellt“, die kleine Alice hat keine Rolle gespielt. Aber sie hat schnell gelernt, wie das Filmemachen geht, und nach einer Weile musste ich sie immer „Cut“ sagen lassen.
Auf die Idee würde Charlotte Gainsbourg nicht kommen.
Wobei gerade sie sich eine Reinheit und Unschuld vor der Kamera bewahrt hat. Sie kann den Anschein erwecken, sie habe das noch nie gemacht. Das ist toll.
James Franco spielt einen Schriftsteller, der den Unfalltod eines Kindes mitverursacht, es geht um Schuld und Vergebung. Das ist ein sehr deutsches Thema.
Es ist ein Thema der menschlichen Existenz schlechthin. Jeder von uns tut Dinge im Leben, die er gerne ungeschehen machen möchte, aber nicht rückgängig machen kann. Keine der handelnden Figuren in unserem Film trifft eigentlich eine Schuld, aber sie sind alle in irgendeiner Form involviert. Und so quälen sie sich mit diesen Was-wäre-wenn-Fragen: Wenn ich abgebogen wäre, wenn ich das und das getan hätte – wäre es dann nicht zu dem Unfall gekommen?
Sie sagen, ein Film muss auf eigener Erfahrung beruhen, wenn er etwas taugen soll. Welche Erfahrung ist es diesmal?
Ich habe keinen Unfall verursacht, aber gerade Filmarbeit hat Auswirkungen auf das Leben aller, die daran teilnehmen. Für den Dreh von „Bis ans Ende der Welt“ sind wir ein Jahr lang durch die Welt gezogen. Die Leute vom Team haben ein Jahr ihre Familien nicht gesehen, ihre Kinder ein Jahr lang nicht aufwachsen sehen, Paare haben sich getrennt. Dafür hat man Mitverantwortung ...
Sie sind ein religiöser Mensch. Was ging Ihnen in den Tagen nach den Pariser Anschlägen durch den Kopf, in denen viel über Religion diskutiert wurde?
Religion hat in der Menschheitsgeschichte viel Schaden angerichtet, auch die meine. Ich bin gläubig, aber kein Freund von institutionalisierter Religion und würde mir wünschen, dass sie überall von der Politik getrennt wäre. In unserer westlichen Welt ist das seit der Französischen Revolution größtenteils der Fall. In der Weltreligion des Islam ist es gerade ein richtiges Problem geworden, ein harter Brocken. Aber wir können nicht so tun, als ob es im Christentum nicht Inquisition, Hexenverbrennungen oder Kreuzzüge gegeben hätte. Weil wir das hinter uns haben, müssten wir eigentlich in der Lage sein, dem Islam Hilfestellungen zu geben, statt ihn zu verteufeln. Es macht mich traurig, dass Barrieren errichtet werden, statt sie mit abzubauen.
Sind Sie generell gegen religiöse Karikaturen? Viele US-Zeitungen drucken keine.
Ich finde die Provokation durch solche Karikaturen oft ziemlich billig, um nicht zu sagen mies. Woran man glaubt, hat damit zu tun, wer man ist, deshalb geht es bei vielen Menschen an die tiefste Substanz, wenn das ins Lächerliche gezogen wird. Ich gebe zu, dass ich „Charlie Hebdo“ nie besonders witzig fand. Aber das steht auf einem anderen Blatt ...
Karikaturen zielen darauf, Autoritäten vom Sockel zu stoßen. Sie möchten religiöse Autoritäten davon ausnehmen?
Das ist das Dilemma: Wie soll das gehen ohne Zensur? Nein, ich würde sie nicht davon ausnehmen wollen. Was aber nicht heißt, dass ich sie gutheißen muss.
Sie haben immer wieder auch Künstlerporträts gedreht, zuletzt „Pina“ und „Das Salz der Erde“ über den Fotografen Sebastião Salgado. Weil Sie gerne Gleichgesinnten begegnen?
Künstler sind die letzten großen Abenteurer. Was eine Choreografin macht, ein Modedesigner oder ein Musiker, das weiß ich erst mal nicht. Bei Pina Bausch habe ich 20 Jahre lang gedacht: Wo kommt all diese Schönheit her in ihren Stücken? Ich drehe diese Filme vor allem, weil ich etwas besonders Schönes und Berührendes mit möglichst vielen Menschen teilen möchte. Keiner kannte die Musik dieser alten Männer in Kuba vom Buena Vista Social Club, aber ich fand, das musste die ganze Welt hören! Und sie wurden in kurzer Zeit so was wie die Beatles, nur dass sie schon 80 waren.
Ihr Film hat den Boom kubanischer Musik in den Neunzigern mit ausgelöst. Hat die Kommerzialisierung Sie gestört?
Nein, Kuba ist darüber wieder auf die politische Landkarte geraten. Dass wir den Filmschluss in der Carnegie Hall drehen konnten, lag auch daran, dass die Clinton-Administration den Kubanern Visa erteilt hat. Wir dachten, dieses obsolete, unglückselige Embargo gegen Kuba wird bestimmt bald ausgesetzt. Aber dann kam George W. Bush, und es herrschte wieder Eiszeit. Auch bei Obama hat es noch sehr lange gedauert, die Gespräche beginnen ja jetzt erst.