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Geert Wilders, Vorsitzender der niederländischen rechtspopulistischen Partei für die Freiheit (PVV), beim Wahlkampf in Breda.
© Peter Dejong/AP/dpa

Geert Mak zur Wahl in den Niederlanden: "Wir sehen das definitive Ende dieses Systems"

Der niederländische Schriftsteller Geert Mak im Interview über den Wahlkampf in einem Land, das seinen Kompass verloren hat: Man sehnt sich nach Führung, doch die ist nicht in Sicht.

Herr Mak, ganz Europa schaut gebannt auf die Niederlande und die Wahl am 15. März, und 75 Prozent der Niederländer wissen noch nicht, wen sie wählen sollen. Was ist da passiert?

Wenn man die Wählerschaft betrachtet, sieht man ein Land, dessen Mitte eingebrochen ist. Die drei starken Parteien, die eigentlich jahrzehntelang die niederländische Parteienlandschaft dominiert haben, die liberalkonservative VVD am rechten Rand, in der Mitte die Christdemokraten CDA und am linken Rand die Sozialdemokraten PvdA – alle drei kalben wie Gletscher. Die niederländische Politik ist eigentlich jahrhundertelang durch die Säulen beherrscht worden, bei denen jeder automatisch wusste, wen er wählen sollte, zu welcher ideologischen Säule er gehörte. In den sechziger Jahren begann dieses System sehr zu wanken. Die Menschen gingen ihrer eigenen Wege, aber die großen Gletscher, die großen Strömungen haben sich dennoch lange gehalten. Nun sehen wir das definitive Ende dieses Systems.

Was bedeutet das?

Die Niederländer, obwohl es ihnen gut geht, haben zunehmend das Gefühl, dass sie keinen Zugriff mehr auf die Politik haben. Das Säulensystem kannte politische Parteien, die doch von einer bestimmten Ideologie aus handelten, wie verdünnt die auch war. Sie folgten nicht den Wählern, sondern ganz im Gegenteil, sie boten den Wählern einen Kompass an. Wir erleben gerade das Ende eines alten Systems und einen recht chaotischen, dünnen und oberflächlichen Wahlkampf. Es ist ein Chaos, das etwas in sich trägt, aus dem vielleicht etwas Neues zum Vorschein kommen kann.

Haben die Niederländer das Interesse an Wahlen verloren?

Nein, überhaupt nicht, es herrscht ein großes Interesse an den Wahlen und die Medien sind voll davon. Man spricht viel darüber, aber selbst in meiner Umgebung hat man den Kompass verloren. Das sagt etwas über die niederländischen Wähler, aber es sagt noch mehr über die politischen Parteien und die Politiker. Wir sehen im Moment in den Niederlanden Politiker, die doch sehr kurzfristig handeln, die sich sehr von den Umfragen und der Wählergunst abhängig gemacht haben.

Geben Sie uns ein Beispiel.

Schauen wir, wie die Parteien auf die Anti-Einwanderungsrhetorik von Geert Wilders reagieren. Geert Wilders selbst fällt im Augenblick in den Umfragen ab, er führt auch für seine eigenen Anhänger einen ausgesprochen schwachen Wahlkampf. Es kann gut sein, dass er noch stärker verlieren wird, aber inzwischen haben große Parteien wie VVD und CDA doch einen Teil seines Gedankenguts übernommen. Die Christdemokraten machen den Islam, der doch nicht zu unserer Kultur passe, zu einem großen Thema. Die VVD macht sich stark gegen Einwanderung und Einwanderer, obwohl das im Augenblick kein großes akutes Problem in den Niederlanden ist, sondern es ist Wilders’ Rhetorik, die man übernimmt. Im Wettkampf um Wählerstimmen sieht man nicht nur Parteien, die in starkem Maße das Marktdenken akzeptieren, sondern die selbst zur Beute des Wählermarktes geworden sind, ohne selbst die Führung zu übernehmen. Wir haben einen großen Bedarf an Staatsmännern oder Staatsfrauen, die gibt es im Moment aber nicht.

Gibt es ein beherrschendes Thema, das wahlentscheidend sein könnte?

Es ist sehr merkwürdig mit den Niederlanden, vor allem, wenn man aus dem Ausland zuschaut. Natürlich gibt es Probleme, gibt es Sorgen, vor allem die älteren Menschen sorgen sich um die Rente, die Pflege und die Mieten, aber im Großen und Ganzen ist es ein ordentlich und gut geregeltes Land. Und dennoch hängt ein großer Schleier von Sorgen und Unfrieden über dem Land. Ich kann das nur so erklären. Niederländer können sich sehr gut schnell anpassen, das war schon immer so. Als in den 80er Jahren die Welle des Marktdenkens über die westliche Welt, auch über Europa schwappte, der Neoliberalismus, der Neokapitalismus und die Neoglobalisierung, waren die Niederländer blitzschnell dabei.

Aus einem Land voller Unsicherheiten. Geert Mak auf der Frankfurter Buchmesse 2016.
Aus einem Land voller Unsicherheiten. Geert Mak auf der Frankfurter Buchmesse 2016.
© Imago/Sven Simon

Das passte doch recht gut zum nationalen Charakter.

Ja, aber hierfür wurde ein hoher Preis gezahlt. Zahlreiche Staatseinrichtungen wurden ganz oder teilweise privatisiert, Menschen mit festen Arbeitsverträgen haben diese massenhaft verloren. Der bis in die 80er Jahre gewiss solide Versorgungsstaat wurde vollkommen umgebaut. Aus einem Land voller Sicherheiten ist ein Land von Unsicherheiten geworden. Die Niederlande sind innerhalb weniger Jahrzehnte von einer Vertrauensgesellschaft zu einer Misstrauensgesellschaft geworden und, verrückt genug, war es in erster Linie der Staat, der dem Bürger misstraute. Mit den Privatisierungen ist überall eine enorme Managementkultur entstanden, in der alles in Zahlen ausgedrückt wird, in der nur noch in allen möglichen Bereichen der finanzielle Wert gesehen wird. Vor allem in der Mittelklasse fühlen sich viele Menschen dadurch erniedrigt und verärgert. Viele Menschen fühlen sich als Opfer der Parteien, die sie immer gewählt haben, aber sie kennen keine Alternative.

Ist das der Grund, warum die Sozialdemokraten im Moment bei acht oder neun Prozent liegen?

Die Sozialdemokraten zahlen einen hohen Preis. Sie haben mit den Liberalen in der Regierung zusammengearbeitet, haben auch absolut dafür gesorgt, dass die Wirtschaft nach der Krise wieder ziemlich gut funktionierte, aber haben so viele Kompromisse dafür schließen müssen, dass sie beinahe nicht mehr wiederzuerkennen sind. Viele Menschen haben sie bei den letzten Wahlen gewählt in der Hoffnung, dass sie einen Damm gegen diese Welle des Neoliberalismus aufwerfen würden. Das Gegenteil ist geschehen. Sie haben gerade viele Dinge erst möglich gemacht und mitgemacht.

Was denn?

Die Sozialdemokraten haben zu Recht gesagt, dass es eine Schande sei, dass die Niederlande noch immer eines der bequemsten Steuerparadiese der Welt seien, dass Betriebe, die in Europa oder der Welt Steuern vermeiden wollen, in den Niederlanden wunderbar aufgehoben seien. Andererseits war es der sozialdemokratische Minister Jeroen Dijsselbloem, der bis zum Äußersten dafür gekämpft hat, den Niederlanden genau diese Möglichkeiten zu erhalten, am liebsten bis 2020 oder 2022 statt kurzen Prozess zu machen. Das verstehen die Menschen nicht mehr und das kostet Stimmen.

Im Moment liegt Mark Rutte (VVD), amtierender Ministerpräsident der Niederlande, in den Umfragen knapp vorne.
Im Moment liegt Mark Rutte (VVD), amtierender Ministerpräsident der Niederlande, in den Umfragen knapp vorne.
© picture alliance / Peter Dejong/

Haben Sie noch ein Beispiel?

Nehmen wir die Einsparungen im Pflegesystem. Jedermann hat verstanden, dass etwas geschehen musste, wollte man dieses System auf Dauer erhalten. In dieser Hinsicht sind Niederländer sehr solide. Auf der anderen Seite geschah das auf so eine grobe und raue Art und Weise und so schlampig, dass letztendlich die Schwächsten vom ganzen Kabinett im Stich gelassen wurden. Da bezahlen vor allem die Sozialdemokraten einen hohen Preis. Und sie können es auch nicht mehr erklären.

Wir sehen eine große Zersplitterung der Parteienlandschaft, selbst vor dem Zweiten Weltkrieg war die wohl nicht so stark. Die stärkste Partei kommt gerade einmal auf rund 16 Prozent. Ist das auch eine Folge des Vertrauensverlustes?

Ja, gewiss. Die Menschen sind auf der Suche. Lange führte Wilders immer in den Umfragen. Das wird aber nicht so bleiben. Selbst wenn es so wäre, dann ist er immer noch nicht so groß, weil es so viele andere Parteien gibt. Wilders hatte immer zwischen 17 und 20 Prozent Anhänger, aber er ist nicht groß aufgestiegen, sondern die anderen Parteien sind weggesackt. Man ist in den Niederlanden auch sehr schnell die größte Partei: An diesen Wahlen nehmen 24 Parteien teil, von denen bestimmt zehn im Parlament landen werden. Es wird bestimmt eine Koalitionsregierung werden, aber nicht mit Wilders. Wilders ist sowieso keine Partei, es ist eine Bewegung und es gibt sehr große Unterschiede zu rechtspopulistischen Parteien in Europa. Marine Le Pen will Macht erkämpfen, sie baut die Partei systematisch auf.

Und Wilders?

Bei Wilders ist davon keine Rede. Wenn Sie einen Brief an die Fraktion der PVV im Parlament schreiben, bekommen Sie keine Antwort, es herrscht Chaos, es gibt so gut wie keinen Kader, das Parteiprogramm besteht aus einer DIN-A-4-Seite. Er ist ein Brandstifter wie McCarthy, der Kommunistenjäger aus den 50er Jahren in den USA. Er ist niemand, der wie ein guter Politiker nach der Phase der Mobilisierung seiner Anhänger dazu übergeht, eine Machtbasis aufzubauen. Man muss verhandeln und Kompromisse schließen, um möglichst viel Macht zu gewinnen. Wilders kümmert sich keine Sekunde darum und ich weiß sicher, dass er in seinem tiefsten Herzen gar nicht daran denkt, in irgendeiner Form mitzuregieren. Seine Position an der Seitenlinie als Rufer und Brandstifter ist viel komfortabler.

Der neiderländischen Wirtschaft geht es gut. Dennoch sind die Menschen verunsichert.
Der neiderländischen Wirtschaft geht es gut. Dennoch sind die Menschen verunsichert.
© dpa-infografik

Welche Folgen hat das?

Die VVD hat viele Gedanken von Wilders übernommen. In ihrem Programm steht 361 Mal "niederländisch" oder "typisch niederländisch", ein bisher nie dagewesener Nationalismus, der durch die Parteiprogramme wabert. Da sieht man schon den Einfluss von Wilders.

Es gibt viele Klientelparteien, die spezifische Interessen bedienen, aber es scheint niemand den großen Plan zu haben?

In einem Land, das immer wieder Raum für kleine Parteien bietet, wird es diese Interessenparteien immer geben. Die neue Partei Denk von Menschen türkischer Herkunft ist das Ergebnis einer logischen Entwicklung, dass aus diesen Gruppen auch irgendwann einmal eine eigene Partei entsteht. Die Parteiprogramme der großen Parteien sind oft sehr durchdacht, aber bei den Politikern vermisst man die Vision. Käme doch nur ein Politiker mit einer größeren Vision. Aber der kommt nicht. In diesem Wahlkampf geht es nicht mehr um die Niederlande, sondern um den Wahlkampf an sich

Und Europa?

Überall in Europa machen sich die Menschen Sorgen um Europa, und darum, wie sich die internationale Situation unter der Führung von Donald Trump entwickelt. Wenn ich in meinem Dorf in die Kneipe gehe, sprechen alle über Donald Trump. Von den politischen Parteien höre ich dagegen nichts. Juncker hat mit seinem Plan wichtige Fragen gestellt, das müsste doch sofort ein Thema für den Wahlkampf sein! Wie weiter mit Europa? Da hört man nichts. Wenn es im Ausland gefährlich wird, rücken die Niederländer zusammen. Die ach so internationalen offenen Niederlande können manchmal ganz schön provinziell sein, das ist sehr paradox.

Die Bürger interessieren sich nicht für Europa?

Doch, enorm, alle reden darüber. Sie machen sich Sorgen. Es gibt zwei verborgene Themen, die kaum an die Oberfläche kommen. Das erste ist die internationale Situation und das zweite ist die zunehmende Verunsicherung wegen der Rente und der Mieten. Zum Beispiel gibt es Legionen von Briefträgern, die alle einen Vertrag haben, der sie zu Selbstständigen macht. Sie müssen unglaublich hart arbeiten und sind sehr von den Launen ihrer Chefs abhängig. Der lose flexible Vertrag ist für das Unternehmen natürlich wunderbar, aber für die Betroffenen nervenaufreibend. Das geschieht überall, in allerlei Sektoren. Eine vernünftige robuste Gesellschaft mit stabilen Verträgen und Verhältnissen hat sich - was die Freie-Markt-Ideologen super finden - in eine fluide Gesellschaft verwandelt, aber auch in eine Gesellschaft, die für die Betroffenen sehr unsicher ist. Das kommt im Wahlkampf nicht vor. Das ist ein großes Problem. Eine ganze Welt von Sicherheit ist in zwei oder drei Jahrzehnten durch dieses globale Marktdenken total auf den Kopf gestellt worden. Wirtschaft spielt eine Rolle, Sparmaßnahmen spielen eine Rolle, aber in vielerlei Hinsicht rufe ich, "it's not the economy, stupid", es ist ein kulturelles Phänomen. Die Ausländer sind dann natürlich ein ausgezeichneter Sündenbock. In Wirklichkeit spielt aber Einwanderung bei uns nur eine marginale Rolle.

Integrationsfigur. Der niederländische König Willem-Alexander begrüsst am 27.04.2016 in Zwolle die Besucher vom «Koningsdag». Willem-Alexander wird am 27. April 2017 50 Jahre alt. Den Tag feiert das Land traditionell mit dem Monarchen mit einem Volksfest, dem «Koningsdag». Doch zur Party am Tag danach lud der König Bürger ein, die genau wie er am 27. April einen runden Geburtstag feiern. 50 Plätze sind für 50-Jährige.
Integrationsfigur. Der niederländische König Willem-Alexander begrüsst am 27.04.2016 in Zwolle die Besucher vom «Koningsdag». Willem-Alexander wird am 27. April 2017 50 Jahre alt. Den Tag feiert das Land traditionell mit dem Monarchen mit einem Volksfest, dem «Koningsdag». Doch zur Party am Tag danach lud der König Bürger ein, die genau wie er am 27. April einen runden Geburtstag feiern. 50 Plätze sind für 50-Jährige.
© Andreas Rentz / Pool/GETTY IMAGES POOL/dpa

Man hört oft, dass die Niederländer ein Problem mit ihrer Identität haben. Es ist doch ein wirtschaftlich gesundes Land, das gute Leistungen vorzuweisen hat, auf die man stolz sein kann. Woher kommen diese Selbstzweifel?

Die Niederlande sind eine Nation, die oft sehr schlampig mit ihrer Identität und ihren Symbolen umgegangen ist. Man hatte eine Fahne, ein Königshaus, das war alles prima. In der gleichen Welle der Globalisierung und des Marktdenkens ist auch die fast vergessene Frage wieder aufgetaucht, hei, wer sind wir eigentlich? Plötzlich wird das Königshaus wieder wichtig, sprechen wir über die jüdisch-christliche Tradition. In Wirklichkeit sind die Niederlande ein merkwürdiges Land, der Norden ist beinahe skandinavisch, der Osten halb deutsch, Maastricht französisch und die Randstad mit den vier großen Städten ist sehr atlantisch orientiert. Es ist so, wie unsere damalige Prinzessin Máxima, heute Königin, einmal gesagt hat: Der Niederländer existiert nicht. Alle waren wütend, aber es war natürlich richtig. Wir haben sehr viele Identitäten. Wir müssen festlegen, wo wir gemeinsam hinwollen.

Ein Typisch roter Briefkasten in Amsterdam, 2002.
Ein Typisch roter Briefkasten in Amsterdam, 2002.
© imago/Rainer Unkel

Das heißt?

Die roten Briefkästen und die gelben Züge - beide vom Markt abgeschafft - waren für mich genauso die Niederlande wie Rembrandts Nachtwache. Die Frage ist auch wieder ein Symptom für eine tiefer liegende Unsicherheit. Wir müssen uns doch fragen: Was haben wir gemein und wo wollen wir gemeinsam hin? Diese Frage wurde bisher viel zu wenig gestellt. Die Debatten im Wahlkampf drehen sich aber nur noch um den Wahlkampf. Ich vermisse einen Parteiführer, der sagt, wofür er steht, ob man dem nun zustimmt oder nicht. Wenn ich sehe, was Merkel oder Schulz in Deutschland tun - danach sehnen sich die Menschen hier. Man braucht auch politische Führer, von denen man sich absetzen kann. Wir vermissen eine deutliche Debatte im Wahlkampf über eine deutliche Vision von Europa und das liegt auch deutlich an den politischen Parteien.

Wagen Sie eine Prognose?

Niemand wagt eine Prognose. 75 Prozent der Wähler sind noch unentschieden. Alle sind außerdem enorm über die Wahl von Trump und den Brexit erschrocken. Keiner sagt mehr etwas. Ich denke schon, dass Wilders' Zeit vorbei ist. Er sagt nichts Neues mehr, auch nicht mehr für seine Anhänger. Er zeigt sich nicht mehr, meidet die Debatten, ich denke der Ballon läuft langsam leer. Aber es kann auch sein, dass wir am 16. März mit einer großen Überraschung wach werden.

Das Gespräch führte Rolf Brockschmidt.

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