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Auf dem "Danke"-Konzert für Flüchtlingshelfer am 11. Oktober in München. Gerade singt Ingo Donot von der Band "Donots".
© dpa

Serie: Kultur und Flüchtlinge: Wir schaffen noch mehr!

Nachbarschaft, Einwanderungsland, bürgerschaftliches Engagement: Wie die Flüchtlingskrise die deutsche Zivilgesellschaft nach vorne bringen kann. Ein Gastbeitrag von der Leiterin der Kulturstiftung des Bundes.

Ein Sonntagmorgen in Neukölln: Auf dem unbenutzten Teil des Friedhofs der Methusalem-Gemeinde entsteht unter der Leitung eines syrischen Agrarwissenschaftlers ein Gemüseacker, gerade wird das Podest für das Kulturprogramm gezimmert, später wird ein Holzhaus dort stehen. In der alten Steinmetz-Werkstatt, direkt an der Hermannstraße, finden Deutschkurse statt, dort steht auch ein von Migranten gezimmerter Kicker. In der Küche werden Kuchen gebacken, ein Konditor aus Westafrika verziert einen Frankfurter Kranz mit rosa Buttercreme, draußen spielt eine Dreimann-Combo: Die Musiker vom Balkan und Maghreb zeigen, wie nah und für das aufmerksame Ohr doch unterschiedlich ihre Klänge sind.

Migranten, Flüchtlinge, Helfer, Künstler, Nachbarn, Vertreter zweier Stiftungen trinken Kaffee und probieren die ersten Kekse. Eine Unterschriftenliste für „Winterpaten“ liegt aus. Der Falafel-Mann vom Kiosk neben der Werkstatt bringt Tomaten, die er nicht verwendet. Das Fest kann beginnen. Die Nachbarn von gegenüber werden auch kommen.

Deutschland könnte die momentane Erschütterung nutzen, sagt Hortensia Völckers

An vielen Orten geht es in diesen Wochen genauso zu. Ich weiß: An vielen Orten geht es auch sehr anders zu. Aber Erlebnisse wie diese geben mir Zuversicht: „Wir schaffen das.“ Sie lassen mich darauf setzen, dass wir mehr schaffen könnten als Hunderttausende vor dem Winter zu beherbergen, Plätze in Schulen und Kitas für ihre Kinder zu finden, die ärgsten Fehlleistungen in Asylunterkünften zu beheben, vielleicht sogar den Wucher mit Wohnraum abzustellen.

Umverteilen! Freiwillige Helfer in einer Hamburger Kleidersammelstelle.
Umverteilen! Freiwillige Helfer in einer Hamburger Kleidersammelstelle.
© dpa

Zuversicht ist das eine; aber da gibt es ja noch die Hoffnung, und die greift weiter aus. Die Parole der Kanzlerin, mehr noch ihr öffentliches Beharren darauf, dass Zäune aller Art das Problem nicht lösen werden – sie lassen hoffen, dieses Land und seine Bürger könnten die momentane Erschütterung nutzen, um in der Gegenwart zu landen, im Denken und im Handeln. In einem Land, in das Flüchtlinge drängen, aus Kriegen, die das Erbe der Kolonialzeit, des Kalten Krieges, des Ölhungers sind; in einem Europa, das in Wirtschaftskrisen zu zerfallen droht; in einer Welt, in der Millionen auf der Flucht sind, weil sie in Bürgerkriegsgesellschaften leben, oder in einem Weltwirtschaftssystem, das bis heute auf den Wohlstand des Nordens zugeschnitten ist. Und am Horizont Klimakatastrophen und Kriege.

Nun, vor einer derart geballt realistischen Beschreibung unserer Epoche ist Hoffnung in Gefahr, leicht dümmlich zu sein. Aber ich glaube, dass wir in den vergangenen Jahrzehnten schon viele der Voraussetzungen für einen tätigen Sprung in die Gegenwart geschafft haben, in den tausenden von bürgerschaftlichen Initiativen. Der Bogen ihrer Aktivitäten ist weit gespannt: Energieaktivisten und kommunale Patrioten, die gegen die Privatisierung des Lebensnotwendigen mobil machen; Urbanisten, die städtische Brachen beleben; Tafeln und Volksküchen für Notleidende und Obdachlose.

Gäbe es eine Landkarte all der Bürgerprojekte, sie wäre bunt gesprenkelt

Und weiter: neue Agrargenossenschaften, Mehr-Generationen-Wohngemeinschaften, Dritte-Welt-Gruppen, Fair-Trade-Unternehmer, Ärzte ohne Grenzen, Postwachstumstheoretiker, Medienleute, Pädagogen. Und, durchaus nicht abseits von all dem: Migrantenvereine, die an sozialen Brennpunkten arbeiten oder Dialoge in Gang setzen, Fußballvereine, in denen Muslime, Konfirmierte und Atheisten zusammen bolzen, Kirchengemeinden, in denen Migranten und Einheimische Gottesdienst feiern. Die Tausenden von Helfern dieser Tage. Und schließlich: soziale Bewegungen sowie, aus und an ihnen wachsend, Gewerkschafter und Politiker. Ihrer aller Aktivitäten haben Deutschland lebenswerter gemacht: für Frauen, für Minderheiten, für Homosexuelle.

Gäbe es eine Landkarte all dieser Aktivitäten, Deutschland wäre bunt gesprenkelt. Sie verzeichnete die Ressourcen, auf die eine Politik setzen könnte, die unser Land und mit ihm Europa zukunftsfähig macht. Es ist oft gesagt worden, dass die Bürger weiter sind in ihrer Wahrnehmung der Gefahren und ihrer sozialen Praxis als die Politiker. Ein Grundgefühl vieler Menschen, das oft von Ungeduld durchsetzt und in vielen Fällen ungerecht ist, weil es von den Zwängen und (auch) heilsamen Langsamkeiten der Politik abstrahiert.

Plötzliche Notlagen wie die „Flüchtlingsflut“ oder auch die Bankenkrise, in denen schleichende Entwicklungen im Leben vieler Millionen Menschen spürbar werden – solche Situationen intensivieren die Gespräche, sie schaffen neue Gemeinsamkeiten oder auch Frontlinien. Vor allem aber bieten sie der Politik eine große Chance, für Veränderungen zu werben, die in normalen Zeiten von den Beharrungskräften, den Lobbies, dem Parteiengeschäft zerrieben werden. Veränderungen, die weiter ausgreifen müssen als ins „migrantische Milieu“. Denn nur, wenn sie weiter reichen, das alltägliche Leben aller einbeziehen, werden sie von vielen getragen werden.

Die Flüchtlinge stellen Behörden, Kommunen, Schulen, Kitas vor große Aufgaben. Aber es gibt keine besseren Zeiten als Krisen, das einzufordern, was schon lange als notwendig erkannt ist: Ob es der quantitative und qualitative Ausbau der Bildungsinstitutionen ist, der Umbau der Städte, die Modernisierung der Infrastrukturen. Und es gibt auch keine besseren Zeiten, um öffentlich zu sagen, was ohnehin alle wissen oder fürchten oder nur fühlen: dass wir uns von einigen Wohlstandserwartungen und Lebensweisen werden trennen müssen – aus Einsicht, und deshalb gestaltend, oder unter dem Druck der Verhältnisse.

Im Pop, im Fußball sind die Migranten angekommen. Aber in der Kultur, den Medien, den Institutionen?

Umverteilen! Freiwillige Helfer in einer Hamburger Kleidersammelstelle.
Umverteilen! Freiwillige Helfer in einer Hamburger Kleidersammelstelle.
© dpa

Und die Kultur? Über die Popkultur und den Fußball muss ich hier nicht reden, dort sind die Migranten schon lange gut angekommen. In den Hierarchien der Medien, der Kultusministerien, in den Intendanzen von Kulturinstitutionen bleibt noch vieles zu erreichen – nicht anders als in Politik und Parteien. Viele der Aktivitäten von Kulturschaffenden aller Sparten, von unten angestoßen oder durch Staat und Stiftungen gefördert, fügen sich zwanglos in die bunt gesprenkelte Landkarte. Das reicht von der Musik in den Schulen („Jedem Kind ein Instrument“) und stadtteilbezogener Kulturarbeit über die Gründung postmigrantischer Theater, neue und nicht länger eurozentrische Sammlungskonzepte von Museen, den kreativen Umgang mit schrumpfenden Etats bis zum Versuch kultureller Neubelebung entsiedelter Regionen – Themen, die auch in der Arbeit der Kulturstiftung des Bundes Schwerpunkte gesetzt haben.

Die Globalisierung der Kultur findet längst statt

Hunderte von Theaterprojekten, Büchern, Hörspielen, Ausstellungen und Kongressen haben die aktuellen Herausforderungen thematisiert, ob die „Überlebenskunst“ in der ökologischen Krise, das Leben im „Postwachstum“, die neue Medienwelt, die Zukunft der Arbeit – und immer wieder die Migration und die Entstehung einer multikulturellen Gesellschaft.

Ob wir aus der jetzigen Situation „nur“ eine „Flüchtlingskrise“ machen, oder ob wir sie für eine Wende nutzen werden, in der Deutschland seine Rolle in der Welt neu findet, in der es unterschiedlich Glaubenden, Arbeitenden, Aussehenden, Sprechenden und Fühlenden zur Heimat wird, das kann heute niemand sagen. Unser Leben findet schon lange nicht mehr in einem homogenen Nationalstaat statt, die Einflüsse und Kräfte, die es prägen, reichen weiter als Europa. Mit der Globalisierung der Wirtschaft vollendet sich – wenn auch anders, als Goethe und Humboldt es sich erträumten – die Globalisierung der Kulturen. Nun folgen ihr die Menschen; mit dem Weltmarkt und der Weltpolitik in die gar nicht mehr entfernten Regionen des Ostens und des Südens erweitern sich die Märkte für undokumentierte Grenzübertritte, wird die Migration, ungleich gewaltiger als zu Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert, zur Normalität.

Wann ist die Quote für Migranten in den Schulen, bei den Gewerkschaften, der Polizei erreicht?

Eine Völkerwanderung hat begonnen? Nein, wir sind schon seit Jahrzehnten mitten in ihrem Anfang. Aber anders als die Zeitgenossen der vorigen wissen wir genauer, wo sie enden könnte; und wir, Erben ungeheurer technischer und kultureller Errungenschaften, haben mehr Ressourcen, sie nicht in Ausgrenzung, Leid und Verfolgung enden zu lassen. Die Jahre vor uns schenken uns die Gelegenheit, nicht nur im Denken zu Zeitgenossen zu werden und die Geschichte nicht zu verpassen, sondern sie zu gestalten.

Wer werden wir im Rückblick gewesen sein, wovon wird erzählt werden, in der Erinnerungskultur von übermorgen? Was aus der Geschichte unseres Landes können wir nutzen, was müssen wir neu erfinden? Und, damit die Frage nicht zu abstrakt gestellt ist: Wann und wie wird die Finanzordnung zugunsten der Kommunen geändert, also der Orte, an denen das Leben stattfindet? Bis wann wollen wir die Quote für Migranten in Schulen, Polizei und Gewerkschaften erreichen? Wäre es nicht jetzt an der Zeit, den Posten einer dritten stellvertretenden Regierungssprecherin mit einer arabisch-muttersprachlichen Deutschen zu besetzen?

Hortensia Völckers leitet seit 2002 die Kulturstiftung des Bundes. In loser Folge drucken wir in diesen Wochen Beiträge von Leitern deutscher Kulturinstitutionen zur Flüchtlingskrise.

Bisher erschienen in unserer Reihe "Kultur und Flüchtlinge" Texte von Klaus-Dieter Lehmann, Präsident des Goethe-Instituts (30.9.), Friederike Fless, Präsidentin des Deutschen Archäologischen Instituts (11.10.) und Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele (20.10.).

Hortensia Völckers

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