Interview mit Konzertorganisatorin Jutta Adler: „Wir müssen kommerziell denken“
Jutta Adler leitet die traditionsreichste Berliner Klassik-Konzertagentur. Ein Gespräch über das Verständnis der Kunden, die Nöte der Künstler und das Hochfahren der Kultur nach 1945.
Frau Adler, Sie können offenbar hellsehen. In einem am 16. März geführten Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ haben Sie vorhergesagt, dass es vor dem Herbst keine Konzerte mehr geben wird. Da waren die Bühnen und Konzertsäle gerade mal seit einer Woche zu. Wie kamen Sie zu dieser Einschätzung, die sich mittlerweile leider als Realität erwiesen hat?
Dazu brauchte es keine prophetische Gabe, sondern nur gesunden Menschenverstand. Wir haben uns angeschaut, wie die Situation in Italien war und wie in Österreich und wussten zudem, dass wir drei Wochen hinterher waren – da erschien es uns logisch, dass es so kommen würde. Wir im Konzertbetrieb werden die letzten sein, die wieder hochgefahren werden. Im allerletzten Moment konnte ich damals noch den Druck unserer Vorschau für die Saison 2020/21 stoppen. Wir verschicken lieber dann etwas Aktuelles, wenn wir wissen, wie und wann es weitergeht, als dass wir unsere Planung so veröffentlichen, als wäre nichts geschehen.
Wie ist der aktuelle Stand?
In dieser Woche werden wir ein Rundschreiben an unsere Kunden versenden, in dem wir das Prozedere erklären, nämlich dass die Konzertbesucher ihre bereits gekauften Karten behalten sollen und wir ihnen jeweils die betreffenden Summen auf dem Kundenkonto gutschreiben. Das kann dann in der nächsten Saison verrechnet werden. In dem Rundschreiben wird übrigens auch bekanntgegeben, welche Konzerte wir verlegen konnten, beispielsweise die von Anne-Sophie Mutter, Ivo Pogorelich, Grigory Sokolov oder Cameron Carpenter. Da behalten die Karten Gültigkeit.
19 Konzerte in der jetzt vorzeitig beendeten Saison haben Sie absagen müssen. Wie waren die Reaktionen der Ticketkäufer?
Wir haben viele sehr nette Briefe bekommen, in denen die Kunden Verständnis zeigen und uns Mut machen. Manche wollen ihr Geld gar nicht zurück und bitten uns, es an die Künstler auszuzahlen, Aber es gibt auch Zuschriften, in denen wir beschimpft werden, so nach dem Motto: ,Wenn nicht in drei Tagen das Geld auf meinem Konto ist, dann steht der Gerichtsvollzieher bei Ihnen vor der Tür!’ Das sind aber zum Glück Ausnahmen.
Dass Sie viele Stammkunden haben, war in der Krise sicher von Vorteil?
16 000 Adressen sind in unserer Kartei, wir können mit fast allen Käufern direkt in Kontakt treten.
Dennoch würden Sie die Leute sicher lieber live in der Philharmonie treffen?
Natürlich! Ohne Live-Veranstaltungen leben zu müssen, ist kein gutes Gefühl. So wie eine nicht enden wollende sommerliche Spielzeitpause. Über Jahrzehnte galt für meinen Mann und mich: Um 18 Uhr ist Abmarsch, abends sind wir im Konzert bei unseren Künstlern! Stattdessen sind wir abends zuhause eingesperrt. Das ist ein Alltag, der mir bislang unbekannt war. Und den Künstlern geht es ja nicht anders. Was sind sie sonst durch die Welt gereist! Sie waren immer auf Achse und sind nun zum Stillsitzen verdammt.
Der Entertainment-Veranstalter Marek Lieberberg hat gesagt: ,Unsere Branche liegt in Trümmern, wie nach einem Krieg.’
Nur mit dem Unterschied, dass 1945 das Kulturleben nach der Kapitulation fast sofort wieder anlief. Mein Mann Witiko hat das ja alles selber miterlebt. Da hatte man eine Perspektive, da wurden die Ärmel hochgekrempelt, alle, die überlebt hatten, organisierten Konzerte an jedem Ort, der nicht zerbombt war. Jetzt dagegen haben wir keinen Schimmer, wie und wann es weitergehen kann.
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Können Sie den Eröffnungsszenarien, die jetzt durchgespielt werden, etwas abgewinnen?
Womöglich wird weniger gehustet, wenn alle Mundschutz tragen...
Ich sehe, Sie haben den Humor noch nicht ganz verloren. Aber im Ernst: Wenn die Abstandsregel nicht fällt, wenn nur jeder dritte Platz besetzt werden darf, können Sie dann überhaupt wirtschaftlich erfolgreich Konzerte in der Philharmonie veranstalten?
Ganz klar: Nein. Wir müssten unter solchen Umständen finanzielle Unterstützung vom Staat bekommen für jedes durchgeführte Konzert. Und übrigens wir wissen auch nicht, wie ein dreiviertel leerer Saal sich auf die Akustik der Philharmonie auswirken würde. Und wie wird es auf der Bühne sein? Die Bläser spucken ja auch mal beim Spielen, das lässt sich gar nicht vermeiden.
Der Organist Cameron Carpenter hat vor ein paar Tagen im Gespräch mit dem Tagesspiegel gesagt: Es gibt derzeit nur zwei Kategorien von Künstlern, diejenigen, die bereits wissen, dass ihre Karriere zerstört ist, und diejenigen, die es noch nicht wahrhaben wollen.
Auf junge Künstler trifft das wohl bedauerlicherweise zu. Denn wenn es wieder losgeht, werden die privaten Veranstalter vor allem auf die bekannten Namen setzen müssen. Damit sie volle Säle haben und Geld verdienen können, um die Mitarbeiter und die Miete zu bezahlen und coronabedingte Einnahmeausfälle teils wieder hereinzuholen. Wir werden sehr kommerziell denken müssen, wenn wir überleben wollen. All jene, die noch keine Stars sind, werden es darum zunächst sehr schwer haben. Einen jungen Künstler, der noch so gut ist, sich aber erst am Beginn seiner Laufbahn befindet, werden wir in der Anfangsphase kaum verpflichten können. Das trifft auch auf die Kammermusik-Formationen zu.
Die Künstler, die sich jetzt bei Ihnen melden, worüber wollen die reden: über Zukunftspläne oder ihre aktuellen Nöte?
Über beides natürlich. Viele sind emotional extrem aufgewühlt, weil sie sich fragen: Wird mein Konzert nachgeholt, werde ich überhaupt wieder engagiert?
Sie müssen dann eine Art Seelsorger sein...
...oder manchmal auch ein Prellbock!
Ihre Firma besteht seit über 100 Jahren, sie hat alle Höhen und Tiefen des 20. Jahrhunderts überlebt. Wird es nach der Krise die Konzertdirektion Adler noch geben?
Na, aber selbstverständlich!