David Thomas über Cyber-Dschihad: „Wir leben im Zeitalter des Cyber-Dschihad“
Der französische Journalist David Thomson über die Rolle sozialer Netzwerke bei der Anwerbung neuer Gotteskrieger.
Herr Thomson, waren die beiden „Charlie Hebdo“-Attentäter das, was Sie als „französische Dschihadisten-Lehrlinge“ bezeichnen?
Die Brüder Kouachi gehörten der ersten Generation französischer Dschihadisten an. Sie haben die sogenannte „irakische Filiale des 19. Bezirks von Paris“ durchlaufen, die in den 2000er Jahren junge Franzosen zum Kampf in den Irak schickte, und gingen in die Moschee des Gurus Farid Benyettou. Heute haben wir es hingegen mit jungen Menschen zu tun, die den Islam und den Dschihad im Internet und den sozialen Netzwerken entdeckt haben, ohne dass ihre Eltern etwas davon mitbekommen hätten, weit entfernt von den Moscheen Frankreichs. Sie ziehen in den Krieg nach Syrien. Nach dem Austausch über Facebook wollen sie endlich physisch all jene Menschen kennenlernen, die sie zuvor noch nie gesehen haben. Wir sind im Zeitalter des Cyber-Dschihad angekommen.
Wann hat sich dieser Generationswechsel vollzogen?
Der mediale Dschihad ist erstmals Ende 2010 sichtbar geworden. Die ersten französischen Dschihadisten, höchsten 20 an der Zahl, sind dann ein Jahr später in Syrien angekommen. Ohne jeden Kontakt sind sie unkoordiniert Gruppen beigetreten und haben über Facebook eine enorme Faszination auf die Freunde zu Hause ausgeübt. Und so haben durch die sozialen Netzwerke die Ankunftszahlen bis 2014 exponentiell zugenommen. Heute gibt es keine massiven Wellen mehr, weil der Großteil der Truppen schon vor Ort ist.
Was hat sich seit 2010 verändert?
Zuvor gab es nur Diskussionsforen, in denen man sich zum Chatten traf. Aber die Foren hatten einen Nachteil: Oft wurden sie von der Polizei überwacht. Wer sich dort aufhielt, war sofort verdächtig. Der Vorteil der sozialen Netzwerke ist dagegen, dass sie eine viel größere Reichweite haben und schwieriger zu überwachen sind. So hat sich die Anzahl der Dschihadisten vervielfacht. Mit Folgen: Erstens hat sich der Zugang zur Propaganda demokratisiert. Früher musste man danach suchen. Mit Twitter und Facebook ist das heute viel einfacher. Die Videos werden sofort in mehrere Sprachen übersetzt und verbreiten sich schnell weltweit. Zweitens erlauben die sozialen Netzwerke all jenen, die schon in den Dschihad gezogen sind, in ständigen Kontakt mit denen zu bleiben, die noch in Frankreich oder Deutschland sind. Während des Afghanistan-Kriegs waren die Dschihadisten in ihren Berglöchern noch von der Außenwelt abgeschnitten. Heute hat die Hälfte der Regierungsmitglieder des Islamischen Staates Facebook-Profile. Sie sind immer zu erreichen, auch wenn sie kämpfen. Die Kalaschnikow in einer Hand, das Smartphone in der anderen.
Wer sind diese französischen Dschihadisten der neuen Generation?
Sie sind durchschnittlich zwischen 20 und 25 Jahre alt, aber nicht nur identitätslose junge Leute aus der Vorstadt. Auch gute Schüler und Menschen, die perfekt integriert sind, mit einem festen Arbeitsplatz und Kindern. Aus soziologischer Sicht ist es also ein komplexes Phänomen. Und doch gibt es Gemeinsamkeiten. Es sind alles junge Menschen, die dem Islam erst seit Kurzem angehören. 90 Prozent kommen aus einem nicht praktizierenden Haushalt. Sie haben also ihre orthodoxe Auslegung des Glaubens nicht von den Eltern übernommen, und wenn sie dann nach Syrien gehen, kommt es oft zum Bruch. Ihr früheres Leben war oft exzessiv: Discos, Alkohol, Drogen, Mädchen und Kleindiebstähle ... Ich kenne welche, die noch zwei Monate vor ihrer Abreise nach Syrien nicht mal gebetet haben. Einige der heute glühenden Dschihadisten trugen gar keinen Bart und schmierten sich Gel in die Haare. Andere waren nicht mal drei Monate konvertiert, als sie sich den Dschihadisten anschlossen. Diese jungen Menschen haben den dschihadistischen Islam über das Internet mit französisch untertitelten Videos kennengelernt. Durch Google und Youtube sind sie auf den Geschmack gekommen. Sie kommen oft aus bildungsfernen Schichten und glauben alles, was ihnen im Internet erzählt wird.
In Frankreich gibt es rund 1400 Personen mit Verbindung zum Dschihad
In Deutschland wird oft die Rolle der Vorstädte, der Banlieue, thematisiert.
Es ist wahr, dass die Mehrheit dort aufgewachsen ist, aber nicht alle. Nehmen Sie Maxime, der mit dem Messer einem syrischen Soldaten den Kopf abgeschnitten hat. Er ist auf dem Land groß geworden. Oder Clémence, die heute hochschwanger in Aleppo ist. Sie ist katholisch erzogen und ganz alleine zum Islam konvertiert in ihrem kleinen Dorf auf dem Land, vor ihrem Computer. Aufgewachsen zwischen Kühen und Ponys auf einem großen Grundstück, hatte sie eine glückliche Kindheit auf dem Land. Das Nest, in dem ihr Elternhaus steht, hat nicht mal 500 Einwohner. Und weit und breit kein Moslem. Sie ging in die Kirche und empfing ihre Kommunion. Und dann fällt ihr als Jungendliche auf einmal beim Stöbern in einer Buchhandlung eine zweisprachige Ausgabe des Korans in die Hand. Der Moment der Offenbarung. Als sie schließlich konvertierte, hatte sie noch nie einen Moslem kennengelernt. Erst später trifft sie Souleymane, ihren Ehemann, Mechaniker von Beruf und Sohn einer Französin und eines Tunesiers, beide Eltern Atheisten und geschieden. Gemeinsam haben sie dann beschlossen, auszuwandern aus Frankreich, ihrem „ungläubigen“ Geburtsland. Sie haben alles verkauft und sind mit ihrem kleinen Sohn im Auto über die Türkei abgehauen.
Die Eltern der Brüder Kouachi kamen aus Algerien.
Natürlich spielt die Identitätssuche eine Rolle. Aber die Brüder Kouachi haben ihren Vater nicht mal gekannt. Der Großteil der französischen Dschihadisten hat eine doppelte kulturelle Identität durch ihren Migrationshintergrund. 60 bis 70 Prozent von ihnen kommen aus dem arabisch-muslimischen Kulturkreis. Ich kenne aber auch Vietnamesen, einen adoptierten Koreaner und viele von den Antillen, die konvertiert sind. Als ich einen jungen Mann mit fester Arbeit, der 2500 Euro im Monat verdiente und verheirat war, fragte, was ihn denn am Dschihad so reizen würde, hat er mir gesagt, als Einwanderer habe er schon alles erreicht, was möglich ist. Selbst wenn sie perfekt integriert sind, haben sie dieses Gefühl der Frustration. Dabei ist die konkrete Herkunft weniger entscheidend als die soziale Frustration und die Erniedrigung, die damit einhergeht. „Der Islam hat uns den Stolz zurückgegeben, in Frankreich kannten wir nur Erniedrigung“, hat mir einer von ihnen gesagt. Wenn sie in Syrien ankommen, werden sie Polizisten des Islamischen Staats. Eine Aufgabe mit Verantwortung. Und mit dem Recht, über Leben und Tod der syrischen Soldaten zu richten. Sie sind die Könige der Stadt. Und wenn sie sterben, werden sie noch Märtyrer und kommen ins Paradies.
Warum gibt es in Frankreich so viele von diesen jungen Leuten?
In Frankreich gibt es 1400 Personen, die in Verbindung zum Dschihad stehen. 400 Franzosen sind in Syrien vor Ort. 200 sind inzwischen zurückgekommen. 74 haben ihr Leben dort gelassen. In England, Belgien und Deutschland sind die Zahlen ähnlich hoch, auch wenn Frankreich an der Spitze steht. Natürlich stellt man sich überall in Europa die Frage nach der gescheiterten Integration. Und doch existiert das Phänomen des Dschihad unabhängig vom jeweiligen Integrationsmodell. Ob nun kommunitaristisch in England, laizistisch in Frankreich oder noch ganz anders in Deutschland – alle Länder sind mit dem Problem des Dschihadismus konfrontiert.
Ist es möglich, dieses Phänomen besser zu kontrollieren?
Nein, es ist unkontrollierbar. Für einen gelöschten Twitter-Account kommen fünf neue hinzu. Heute werden die französischen Foren von Raqqa in Syrien aus moderiert. Man kann den Zugang zwar abschalten, doch das würde überhaupt nichts bringen. Die Behörden sind machtlos. Wir müssen lernen, für die nächsten zehn bis 20 Jahre damit zu leben. Es wird mehr Attentate wie in Paris geben.
Das Gespräch mit Pascale Hugues hat Mattes Lammert aus dem Französischen übersetzt.