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Kenny Rebenstock (links) und Nico Hirte haben am Samstagmorgen am Hauptbahnhof die einzigen beiden Ausgaben des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo gekauft. Sie hatten seit Mitternacht vor der Buchhandlung gestanden.
© Maurizio Gambarini/dpa
Update

Ansturm auf Satirezeitschrift: Neue "Charlie Hebdo"-Ausgabe binnen Minuten ausverkauft

Vom Ladenhüter zum Bestseller: Lange Schlangen bildeten sich am Samstagmorgen vor den Kiosken am Berliner Hauptbahnhof. Alle wollten eine Ausgabe der französischen Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" - der ersten nach den Anschlägen in der vergangenen Woche. Ein beispielloser Run - in ganz Deutschland.

Kurz vor fünf Uhr morgens ist es still am Berliner Hauptbahnhof. Nur nicht vor dem Zeitungsgeschäft Relay. Fünfzig Menschen stehen fein säuberlich aufgereiht und starren wie gebannt auf die geschlossene Glastür. Hinter der Glastür wuseln Mitarbeiter umher. Ein Pulk von Fotografen steht vor der Scheibe. Einige Polizisten beobachten das Treiben. Alle warten darauf, dass sich die Tür öffnet und sie kaufen können, wofür sie gekommen sind: Die neue Ausgabe der Satirezeitschrift "Charlie Hebdo", die erste Ausgabe nach dem Anschlag auf deren Redaktion in Paris.

Die einen sind gar nicht erst schlafen gegangen. So auch Ioan Schmidt, 27, aus Mitte, dem "Charlie Hebdo" vor dem Anschlag kein Begriff war, wie er zugibt. "Mir war 'Charlie Hebdo' vorher nicht bekannt. Aber ich stehe hier um mitreden zu können, einfach um zu wissen was da drin steht", sagt er.

Unterdessen werden die Fotografen hektischer. Ein Zeichen für die Meute, dass es gleich losgehen könnte. Michael Kilpper, 38, aus Prenzlauer Berg ist einer von denen die schon wieder auf den Beinen sind. Er möchte die erste Ausgabe nach dem Anschlag gar nicht für sich selbst, sondern für seine 80-jährige Mutter. Die hatte vor vielen Jahren einmal in der Redaktion der Satirezeitschrift gearbeitet. "Das Gefühl bei ihr ist geblieben", sagt er.

Kleines Problem: Kilpper steht ziemlich weit hinten in der Schlange. Sein Schicksalsgenosse direkt vor ihm, war vorher schon am Bahnhof Zoo. "Die Geschäfte dort hatten bestellt und haben aber nichts geliefert bekommen", sagt er. Da hat er sich auf den Weg zum Hauptbahnhof gemacht. Seine Informationen bahnen sich ihren Weg durch die Schlange der Wartenden: Der Relay im Untergeschoss des Hauptbahnhofs soll sein Kontingent auch nicht erhalten haben. Hoffen und Bangen vor der richtigen Tür zu stehen. Da geht sie plötzlich auf. Ein Menschenauflauf ergießt sich in das Geschäft, Fotografen hinterdrein. Doch schon nach Sekunden die Ernüchterung. "Es gibt nur zwei Exemplare", ruft jemand laut. Die Leute wollen es nicht wahrhaben, drängeln zum Schalter, doch ohne Erfolg. "Wir hatten nur zwei", sagt eine Mitarbeiterin entschuldigend.

Die zwei Glücklichen sind Kenny Rebenstock, 27, aus Torgelow angereist und sein Freund Nico Hirte, 24, aus Pasewald. Vier Euro haben sie für die Zeitschrift bezahlt.

Einige warten seit Mitternacht vor dem Laden

Seit Mitternacht stehen sie vor dem Zeitungsladen. "Beim Warten habe ich eine Flasche Wodka getrunken", sagt Rebenstock, während er mit dem Cover für ein Foto posiert und grinst. "Ich bin eigentlich nur durch die Medien auf "Charlie Hebdo" gekommen und hatte Interesse daran, weil es eine begrenzte Anzahl gibt", sagt er. Dass es in diesem Geschäft dann aber nur zwei Exemplare geben würde, dass hätte ihn auch überrascht.

Weder Hirte noch Rebenstock können Französisch, sie können die Zeitschrift also gar nicht lesen. "Es gibt ja Google translate", sagt Rebenstock. Hinter ihm steht nun ein junger Mann mit blondem Haar. "Ich biete dir 500 Euro in Bar für die Ausgabe", sagt er ernst.

Köpfe drehen sich. Der Mann ist aufgebracht, weil er gehört hat, dass Rebenstock und Hirte kein Französisch können. Er ist extra von Münster nach Berlin gekommen, um heute Nacht hier anzustehen. Lange hat er in Paris gelebt, diese historische Ausgabe nun an jemanden geht, der die Zeitschrift vorher gar nicht kannte und sie auch nicht lesen kann, macht ihn wütend. "Das tut mir im Herzen weh", sagt er. Rebenstock aber will nicht verkaufen. "Ich kriege gutes Hartz IV", sagt er. "So nötig habe ich es nicht."

Das Magazin ist in 30 Sekunden ausverkauft

Für alle Enttäuschten heißt der heiße Tipp um fünf Uhr dreißig: Auf zu "Do-you-read-me" in der Auguststraße. Es wird gemunkelt, dort solle es noch das ein oder andere Exemplar geben. Die Meute macht sich auf den Weg. Auch der junge Mann aus Münster will es dort versuchen. Derweil hat sich auch im Virgin Media Store ein Stockwerk drüber der Tumult gelegt. Der Verkäufer hat kurzerhand alle Leute aus seinem Laden geworfen. Jetzt hängen überall Schilder: "Charlie Hebdo ausverkauft!!".

"Ich will nicht, dass die Leute sich hier umbringen", sagt er. Es wurden nur 125 Exemplare der Ausgabe nach Berlin geliefert, fünf davon in sein Geschäft. Vier Hefte hat er verkauft, 30 Sekunden hat das gedauert, aber das letzte hat er noch. Ob er es für sich behalten will? Er nickt unmerklich. Noch immer ist er von Kunden umzingelt. Der Verkäufer ist genervt. "Der reinste Kindergarten hier", sagt er.

Verwirrung herrscht auch um die Sprache der Ausgabe. Ein verzweifelter Journalist vom Deutschlandfunk fragt nach der deutschen Ausgabe des "Charlie Hebdo". "Das war so ein Gerücht", sagt der Verkäufer. "Wir wissen nicht ob eine deutsche Ausgabe wirklich kommt, heute war alles auf Französisch.". Eine große blonde Frau kommt herein. "Haben sie Charlie Hebdo?", fragt sie freundlich. "Nein", sagt der Verkäufer mechanisch, "ausverkauft". "Dann nehme ich die Melodie und Rhythmus", sagt die Frau. Besser als nichts.

Beispielloser Run auf neue "Charlie Hebdo"-Ausgabe in ganz Deutschland

In ganz Deutschland bietet sich am Samstag dasselbe Bild - dasselbe Bild wie zuvor in anderen europäischen Ländern: Zum Verkaufsstart der ersten „Charlie-Hebdo“-Ausgabe seit den Terroranschlägen von Paris setzt ein beispielloser Run auf das Heft mit der Mohammed-Karikatur auf dem Titel ein. In Minutenschnelle ist die Ausgabe fast überall ausverkauft, den Zeitungshändlern werden die Blätter buchstäblich aus den Händen gerissen.
Das Problem: Wegen des Massenansturms auf das Heft in Frankreich sind viele Kioske und Geschäfte in Deutschland nur mit einer extrem limitierten Stückzahl beliefert worden. Andere haben gar keine Exemplare bekommen und müssen ihre Kunden vertrösten. „Wir hätten 500 Exemplare bestellen können, die alle verkauft worden wären“, sagt eine Händlerin im Stuttgarter Hauptbahnhof.

Vor der Buchhandlung im Frankfurter Hauptbahnhof versuchen gleich mehrere hundert Menschen, bei der Öffnung um 5.00 Uhr eines von nur 38 Exemplaren zu ergattern. „Wir wollten die Kunden zunächst einzeln in den Laden schleusen, aber wir konnten die Tür nicht lange halten“, sagt ein Mitarbeiter. Was sich dann abspielte, hat er so noch nie erlebt: Streit und Gerangel um eine Zeitschrift.

„Wir haben Schilder aufgestellt, dass das Magazin ausverkauft ist. Trotzdem fragen die Leute“, berichtet Friederike Buchtien vom Zeitungsladen im Nürnberger Hauptbahnhof, die am frühen Morgen gerade einmal 15 Exemplare im Angebot hatte. Früher habe es im Laden immer nur zwei Exemplare gegeben. „Die sind aber eigentlich nie verkauft worden.“ Dieselbe Erfahrung haben die Mitarbeiter der Bahnhofsbuchhandlung in Augsburg gemacht, wo die ersten Kunden schon am Freitagabend Schlange standen. Vor den Terroranschlägen seien immer nur drei Exemplare vorrätig gewesen, von denen man zwei am Ende der Woche wieder zurückgeschickt habe, sagt eine Verkäuferin. Diesmal gab es sieben Exemplare, doch: „Heute hätten wir noch ein paar hundert verkaufen können.“ Dass die jüngste Ausgabe von „Charlie Hebdo“ in vielen muslimischen Ländern Proteste ausgelöst hat, dass die Wut über die dargestellten Mohammed-Karikaturen inzwischen mancherorts in Gewalt umgeschlagen ist, schreckt die Käufer wenig - in Deutschland ebenso wie in Frankreich, wo die Auflagenzahl am Samstag auf sieben Millionen erhöht wurde.

Viele sehen in dem Kauf des vier Euro teuren Heftes ein Statement: „Man kauft nicht nur das Magazin“, sagt ein Kunde in Stuttgart. Das Heft sei „ein Symbol der Solidarität mit den Opfern“. Doch ist das der einzige Grund? Auf der Internet-Plattform Ebay wechseln nur wenige Stunden später die ersten Exemplare für bis zu 100 Euro den Besitzer, ständig folgen neue Angebote, die Preise klettern stündlich in die Höhe. Die deutschen Händler hoffen nun auf Nachschub aus Frankreich. Dann rechnet auch die Schreibwarenhandlung Wegmann in Zwiesel damit, endlich zum Zuge zu kommen. Das kleine Geschäft im Bayerischen Wald hatte vor einigen Tagen angekündigt, 50 bis 60 Exemplare zu verkaufen, jedoch keine Lieferung bekommen. „Es hieß, es werden erst die Großstädte beliefert“, sagt Mitarbeiter Damaris Rankl. „Das ist natürlich schade.“ Die Nachfrage sei enorm, die Liste der Vorbestellungen werde immer länger. Im Laufe der nächsten Woche soll es nun klappen mit der Lieferung von „Charlie Hebdo“ - auch nach Zwiesel.

Terrorist von Paris anonym beigesetzt

Bloß keine Pilgerstätte für muslimische Fanatiker: Der erste von drei getöteten Terroristen ist anonym beigesetzt worden. Saïd Kouachi, älterer Bruder der beiden Islamisten, die das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ überfallen hatten, sei am Freitag in Reims begraben worden. Das bestätigte die Verwaltung der nordöstlich von Paris gelegenen Stadt am Samstag. Bei den Anschlägen und Geiselnahmen hatten die Terroristen in der vergangenen Woche 17 Menschen getötet. Kouachi habe zwei Jahre in dem Ort gewohnt, deswegen habe die Beerdigung dort nicht verweigert werden können, hieß es. Mit der Beisetzung in einem anonymen Grab solle verhindert werden, dass der Ort zu einer Pilgerstätte für Fanatiker werde.

Der jüngere Bruder Chérif Kouachi soll ebenfalls anonym in Gennevilliers im Norden von Paris beerdigt werden. Im Fall des dritten Terroristen Amedy Coulibaly, der für die Geiselnahme im koscheren Supermarkt verantwortlich war, sollen die Angehörigen noch keine Entscheidung getroffen haben. Er lebte in Grigny südlich von Paris. (mit dpa)

Pascale Müller

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