Gespräch mit Thomas Ostermeier: „Wir brauchen die Provokation“
Schaubühnen-Chef Thomas Ostermeier über Angela Merkels Flüchtlingspolitik, den Rassismus der AfD und die Freiheit des politischen Theaters.
Herr Ostermeier, was ist Ihrer Meinung nach Angela Merkels bessere Rolle: Krisenmanagerin oder Bundeskanzlerin?
Dazu muss ich ja erst mal glauben, dass sie eine gute Krisenmanagerin ist.
Ist sie nicht?
In der Griechenlandkrise war sie es nicht. Bei der Flüchtlingskrise sieht es anders aus: Aus einem humanitären Impuls heraus hat sie erst richtig gehandelt und die Grenzen offen gelassen. Danach ging es ihr nur noch um Strategie. Durch den Deal mit der Türkei hat sie für Obergrenzen gesorgt, ohne selber solche einzuführen. Vielleicht war selbst ihr „Wir schaffen das“ ein Stück weit Taktik.
Wie meinen Sie das?
Es war ihre Chance, ihr hartes Image, welches ihr die Eurokrise einbrachte, abzulegen. Ich denke nicht, dass es der Hauptimpuls war, aber sicher wollte sie ihr Image aufpolieren.
Ging die Taktik auf?
Sie hat Sympathien gesammelt, der Parteienlandschaft hat sie aber einen Bärendienst erwiesen. Man könnte sagen: Eine konservative Kanzlerin mit einer Politik, die man eher bei der SPD verorten würde, hat der AfD den Weg geebnet, weil der rechte Rand frei wurde. Gerhard Schröder hat mit der neoliberalen Agenda 2010 die SPD zerstört, Angela Merkel macht mit ihrer sozialdemokratischen Politik die konservative Partei kaputt. Tragisch, weil ihre Flüchtlingspolitik im September 2015 natürlich richtig war.
Wie sieht es auf europäischer Ebene aus?
Merkels „Wir schaffen das“ war ein Alleingang. Sie hat sich nicht mit den anderen europäischen Regierungen abgestimmt. Das kam in unseren Nachbarländern nicht gut an. Aber viele Menschen, die mit der Flüchtlingspolitik ihrer Regierung nicht einverstanden sind, schätzen sie für ihre Entscheidung. Ich glaube aber immer noch, dass es Merkel gar nicht so stark um diese drei Worte ging.
Weshalb sie sich auch jüngst davon distanzierte?
Das war eher ein Nebensatz, der von den Medien später aufgegriffen wurde. Vielleicht vergleichbar mit Schabowskis Lapsus linguae, der damals über Nacht die Grenzen an der Berliner Mauer öffnete. Das beweist auch die Tatsache, dass sie sich jetzt davon distanziert. Sie scheint selber ein bisschen erschrocken, wie aufgeladen diese drei Worte in der Öffentlichkeit erscheinen.
Kann Angela Merkel den Spagat schaffen zwischen denen, die mehr Engagement von ihr fordern, und solchen, denen ihre Politik schon zu weit geht?
Das ist eine schwierige Frage, weil es ein schwieriger Sachverhalt ist. Es geht ja nicht nur darum, die Flüchtlingsthematik zu lösen. Unsere Gesellschaft funktioniert nicht mehr, weil wir mit den Folgen neoliberaler Politik zu kämpfen haben. Jungen Menschen fehlen Perspektiven, das Prekariat wächst und die Verzweiflung der Menschen treibt den Hass und die Angst an. Denken Sie an die Hysterie nach dem Münchner Amoklauf. Es war ja fast so, als hätte man sich eine islamistische Terrorattacke gewünscht, um den Unmut gegenüber Muslimen zu legitimeren. Die Frage, wie man mit Flüchtlingen oder Muslimen grundsätzlich umgehen soll, ist eine Stellvertreterdebatte für die eigentliche Problematik einer durch und durch ungerechten Gesellschaft. Die Attentäter in Frankreich kamen aus den Vororten europäischer Metropolen und eben nicht aus Syrien, und der Amokläufer aus München aus prekären deutschen Verhältnissen. Diese Tatsache wird zu wenig problematisiert. Es ist schwierig, eine soziale und humanistische Flüchtlingspolitik zu legitimieren, wenn sie andererseits auf einen knallharten konservativen Sparkurs hierzulande setzt. Wie erklärt man das dem abgehängten Drittel der Bevölkerung? Das ist der tiefe Widerspruch bei Merkel und der Zündstoff für die AfD.
Sie haben kürzlich gesagt, dass es paradoxerweise die Verlierer der Kapitalismus-Gesellschaft sind, die mit ihrem Engagement in den Flüchtlingsheimen Angela Merkel „den Arsch retten“.
Ja, da finden sich viele junge Leute ohne Perspektive oder Leute, die aus dem Erwerbsleben rausgeflogen sind, die sich ehrenamtlich engagieren. Die Verlierer von Angela Merkels Politik retten jetzt ihr „Wir schaffen das“.
Sie sind Theatermann. Was kann die Kunst dazu beitragen, dass es gelingt?
Wenig. Die Kunst ist da machtlos. Wenn die Kunst politische Probleme lösen könnte, hätten wir keinen Faschismus gehabt. Bertolt Brecht war einer der wichtigsten deutschen Künstler. Er warnte vor dem drohenden Übel, konnte es aber nicht aufhalten. Künstler sind keine Politiker. Die Kunst muss ein Reich für Anarchie sein, ohne moralische Grenzen und mit der Möglichkeit, ohne Schranken im Kopf zu denken. Trotzdem gibt es natürlich viele Künstler, die ihre kreative Kraft aus politischem Engagement nehmen.
Wie schaffen Sie das?
Ich versuche mit meiner Kunst politisch, aber nicht aktionistisch zu sein. Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass meine Inszenierungen die Welt verändern können.
Die Themen Flüchtlinge oder Migration werden oft sehr provokant oder polemisch in der Kunst behandelt. Das Zentrum für Politische Schönheit wollte öffentlich Flüchtlinge von Tigern fressen lassen, die Schaubühne stellt im Stück „Fear“ die AfD mit Zombies gleich.
Klar, man will auch provozieren. Man wird ja auch von der Gegenseite provoziert. Das Stück, das ich gerade an der Schaubühne inszeniere, Arthur Schnitzlers „Professor Bernhardi“, ist da vielleicht subtiler. Es gibt viele Dialoge, die stark an Debatten im heutigen Deutschland erinnern: Böhmermanns Schmähgedicht, Burka, Religionsfreiheit. Auf eine sehr komplexe Art wird hier über Rassismus und seine Folgen erzählt. Das ist eine andere Art der Auseinandersetzung als bei „Fear“, aber es braucht auch diese provokanten Stücke, mit denen wir in den Kampf und vor Gericht ziehen.
Die Publizistin Gabriele Kuby und die AfD haben Klage gegen das Stück eingereicht.
Falk Richter bringt mit dem Stück seine Wut auf die Bühne. Die Populisten haben die Provokation nicht für sich gepachtet, wir Künstler dürfen uns da auch bedienen.
Es gab danach Einschüchterungen, Vandalismus und sogar Morddrohungen gegen Sie. Haben Sie damit gerechnet?
Das hat uns schon sehr überrascht. Aber wir lassen uns nicht einschüchtern. Die Aufführung „Fear“ ist keine politische Strategie, sondern Ausdruck unserer Wut. Wir verteidigen unsere Meinungsfreiheit und die Freiheit der Kunst. Kunst darf alles und ich bin es mir fast schuldig, so zu handeln in dem heutigen gesellschaftlichen Klima.
Darf Kunst auch Migranten und Minderheiten abwertend darstellen?
Ich komme mir bei der Frage jetzt ein bisschen vor wie bei der Gewissensprüfung damals, als ich nicht zum Militär wollte: Herr Ostermeier, ihre Mutter wird von einem Kidnapper mit einer Waffe bedroht. Würden Sie eine Waffe benutzen um sie zu befreien? – Sehr suggestiv. Die Kunst ist frei und dürfte auch das, ja. Auch wenn ich engagiert dagegen vorgehen würde.
Sie meinten einmal, dass Sie als Westdeutscher das Politische gesucht haben, weil es nicht täglich verhandelt wurde. Wird es das heute?
Da müssen wir zwischen Politik und Schlagzeilen zur Politik unterscheiden. Die Schlagwort-Rhetorik der AfD hat nichts mit Politik zu tun. Es hat nichts mit politischer Analyse zu tun, sondern mit den Emotionen der Menschen. Die Populisten fragen nicht nach den Hintergründen. Unsere Gesellschaft ist emotionaler für das Politische geworden, das macht uns noch nicht zu einer politisierten Gesellschaft.
Hat Angela Merkel in ihrer Amtszeit den politischen Diskurs verändert?
Da habe ich Zweifel. Man sollte den Einfluss von Angela Merkel auf die Gesellschaft und Politik nicht überschätzen. Natürlich ist sie prägend, aber wir würden heute die gleichen Fragen diskutieren, wenn jemand anderes im Kanzleramt wäre. Merkels Empathie und ihre analytischen Fähigkeiten als Physikerin machen sie zu einer faszinierenden Person, aber nicht zu einer allmächtigen Politikerin. Ihr Einfluss in Europa ist eher darauf zurückzuführen, dass sie die Wahrheit des wirtschaftlichen Erfolges gepachtet hat.
Welches Theaterstück würden Sie der Kanzlerin im Hinblick auf die Flüchtlingskrise ans Herz legen?
Tatsächlich das Schnitzler-Stück, an dem ich gerade arbeite. Das Stück thematisiert die Fragen, die wir angehen müssen, damit wir „das“ schaffen.
Schaffen wir es?
Locker. Drei Ausrufezeichen.
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