200 Jahre Karl Marx: Wie Trier seinen umstrittensten Sohn feiert
Riesen-Statue, Riesen-Ausstellung, eine Stadt im Ausnahmezustand: Zum 200. Geburtstag von Karl Marx versucht seine Heimatstadt Trier, den Denker zu rehabilitieren.
Was hätte Karl Marx zum Mega-Marx in Trier gesagt? Die Bronzestatue der Volksrepublik China, die international Schlagzeilen machte und an diesem Samstag zum 200. Geburtstag des weltberühmten Trierers eingeweiht wird, hätte ihn befremdet. Ein Werk des Staatskünstlers Wu Weishan, ein Jubiläumsgeschenk ausgerechnet von einem Obrigkeitsstaat, wie Marx ihn leidenschaftlich bekämpfte?
Triers Oberbürgermeister Wolfram Leibe hat Briefe erhalten, etwa von Gereon Sievernich, dem ehemaligen Direktor des Martin-Gropius-Baus in Berlin. Man möge die Einweihung bitte verschieben, bis Liu Xia, die Witwe des Nobelpreisträgers Liu Xiaobo, aus dem Hausarrest entlassen wird. Bei der Pressekonferenz zur Eröffnung der Jubiläumsausstellungen „Karl Marx 1818 - 1883. Leben. Werk. Zeit“ hält Leibe dagegen: Als Kommune stünde es Trier nicht an, mit erhobenem Zeigefinger zu agieren, „die Moralfrage gehört in die Weltpolitik“. Nichts gegen Diplomatie, aber sollte man sich deshalb von einem Unrechtsregime beschenken lassen?
Streitfall Marx. Ministerpräsidentin Malu Dreyer äußert Verständnis für die Proteste der SED-Opferverbände, während die Ausstellungsmacher Marx vom Sockel holen, ihn in seiner Zeit erklären und aus den Dogmatisierungen des 20. Jahrhunderts herauslösen wollen. So erklärt es Beatrix Bouvier, die wissenschaftliche Leiterin der Hauptausstellungen mit rund 400 Exponaten auf 1600 Quadratmetern. 20 Jahre nach dem Mauerfall sei eine Neubewertung geboten.
Ampelmännchen, Weine, Marx-Badeenten: Marx wird zur Marke
Die Römermetropole mit ihren acht Weltkulturerbestätten hat lange mit dem Verfasser des „Kommunistischen Manifests“ gehadert. Jetzt macht sie Marx zur Marke. Mit einer konzertierten Museumsaktion von Rheinischem Landesmuseum, Stadtmuseum im Simeonstift, dem Museum am Dom und dem Karl-Marx-Haus, mit Geldern von Rheinland-Pfalz, der Stadt, dem Bistum und der Friedrich-Ebert-Stiftung. Mit 300 Veranstaltungen, nicht nur für die zahlreichen chinesischen Touristen, sondern auch für die Bürger der Stadt: vom Musical bis zum Kongress. Und mit Marx-Ampelmännchen an der Porta Nigra, Marx-Weinen und Marx-Badeente im Museumsshop. OB Leibe: „Wir stellen uns der Verantwortung als Geburtsstadt.“
Marx, der Trierer Bürgersohn. Der Spross jüdischer Eltern, die in der katholischen Bischofsstadt zum Protestantismus konvertierten. Der Neuhegelianer und Philosoph, der Journalist, der Fortschrittsoptimist, der begeistert eine Dampfmaschine in sein Notizbuch zeichnet, der Ökonom, der polyglotte Europäer, der Staatenlose, der Pionier der Arbeiterbewegung, der Privatmann, der Unvollendete, der für totalitäre „Ismen“ missbrauchte Gesellschaftstheoretiker.
All diese Facetten werden in den Ausstellungen beleuchtet. Die Lebensstationen und Netzwerke in Trier, Bonn, Berlin, Köln, Paris, Brüssel und London im Stadtmuseum. Die Schriften und der historische Kontext im Landesmuseum. Die Schreibwerkstatt samt Lesesessel im Geburtshaus. Und das Dom-Museum steuert zeitgenössische Kunst zum Thema Arbeit bei, mit Werken von Harun Farocki, Andreas Gursky und einer Installation zum Trierer Sozialwissenschaftler Oswald von Nell-Breuning. Von ihm stammt der berühmte Satz: „Wir stehen alle auf den Schultern von Marx“.
Marx und Marxismus, kann man das trennen? Der Mensch Marx, ist das der bartlose 17-jährige Advokatensohn mit wildem Lockenschopf, wie sein Kommilitone Heinrich Rosbach ihn skizzierte – eine erstmals gezeigte Trouvaille? Was ist das für ein Bursche, dem zuliebe die vier Jahre ältere, hochgebildete Regierungsratstochter Jenny von Westphalen ihre Verlobung löste? Der über Geld nachdachte, mit Geld aber nicht umgehen konnte. Dem vier Kinder starben, der mit der Magd fremdging und den Jenny doch zeitlebens zärtlich ihr „Möhrchen“ nannte? Die Ehefrau als Mitarbeiterin, man kennt das von Brecht: Jenny übertrug Karls Sauklaue in leserliche Schrift, lektorierte, editierte, engagierte sich.
Die soziale Frage ist in den Ausstellungen allgegenwärtig
Mit Anekdoten halten die Ausstellungen sich nicht lange auf. Umso eindrücklicher wird die Epoche des Umbruchs vor Augen geführt, seine Epoche, die industrielle Revolution. Die Dimension dieses globalen Umbruchs lässt sich schon an den Gemälden ablesen, Leihgaben aus Berlin, Paris, London und der Eremitage. Der Stil ist klassisch, die Motive sind revolutionär: Straßenkinder, Inhaftierte, ein Wanderschauspieler mit verhungertem Äffchen, das erste europäische Arbeiterporträt von Adolph von Menzel, Genreszenen von Leihhäusern, Auspfändungen und Passstellen für Auswanderer, dazu bukolische Landschaften mit rauchenden Schloten. Etwa in Wuppertal-Barmen, dem Geburtsort von Marx’ lebenslangem Kompagnon Friedrich Engels.
Armut, Ausbeutung, Auswanderung, die soziale Frage ist allgegenwärtig. Die Aktualität muss nicht betont werden, wenn Flüchtlinge in einer Nussschale vor einem stattlichen Segelschiff kauern, auf einem Ölgemälde Karl Schlesingers von 1851. So wie die Maler mit den neuen Motiven fremdelten, so hatte die Gesellschaft noch keine Vorstellung von der neuen Zeit. Marx versuchte sie auf den Begriff zu bringen, er las und schrieb wie ein Besessener. Wobei die Kuratoren zu viel Gedrucktes vermeiden wollten. Mit Medienstationen, Barrikaden, Maschinenraum und Comics zur Erläuterung des Kapitalismus haben sie die 13 Säle im Landesmuseum nun jedoch überfrachtet. Die einzige erhaltene Manuskript-Seite des „Kommunistischen Manifests“ und eine mit Korrekturen versehene Erstausgabe des „Kapitals“, zwei Welterbe-Pretiosen, übersieht man da leicht.
Vielleicht kommt es ja doch darauf an, die Welt zu verstehen: Marx hofft auf bessere Zeiten, beim Hambacher Fest, bei der Märzrevolution 1848, beim Aufstand der Pariser Commune, bei der ersten Weltwirtschaftskrise. Er kämpft nicht mit der Waffe, sondern mit der Feder, soweit die Zensur es zulässt. Eine zeitgenössische Karikatur zeigt ihn als rheinischen Prometheus, dem der preußische Adler die Leber weghackt. Im Londoner Exil ergründet er die Ursachen des Scheiterns ebenso obsessiv. 160 Notizbücher füllt er mit seiner hastigen Schrift. Und kaum dass eins seiner Werke erschien, krittelt er schon wieder daran herum.
Trier ist während der Feierlichkeiten im Ausnahmezustand
„An allem ist zu zweifeln“, schrieb Marx. Sein 17-jähriges Alter Ego findet das auch, im mobilen Theaterstück „Marx! Love! Revolution“ des in Trier geborenen Autors Johannes Kram, der den Abiturienten Marx und sein rauschebärtiges Über-Ich mit dem Publikum durch die Altstadt schickt. Von der Statue neben dem Simeonstift vorbei am Wohnhaus der Familie über Karls Gymnasium im Jesuitenkolleg und den Kornmarkt mit dem Casino, vor dem Karls Vater auch mal die Marseillaise schmetterte, bis zum Geburtshaus in der Brückenstraße. Leistung ist Arbeit durch Zeit: Wer den ganzen Marx in Trier sehen will, muss die Beine in die Hand nehmen.
Im Theater Trier tagt derweil die SPD, die Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft rufen zum Protest gegen die Einweihung der Fünf-Meter-Statue auf, die Anhänger der in China verfolgten spirituellen Falun Gong versammeln sich zur Mahnwache, die AfD will schweigend marschieren. Am Geburtstag überschattet der Streit um die Statue jedes Bemühen um Entideologisierung. Hunderte Polizisten sind an diesem Samstag im Einsatz. „Die Stadt ist im Ausnahmezustand, und die Welt schaut zu,“ schreibt der „Trierische Volksfreund“.
Ein Fun Fact am Rande: Zur Wiedereröffnung des Karl-Marx-Hauses liest Günther Jauch die Geburtsurkunde von Marx vor. Unterschrieben hat sie der damalige Vize-Bürgermeister von Trier, Emmerich Grach, ein Vorfahr von Jauch. Ja, wir stehen alle auf seinen Schultern.
Bis 21. Oktober. Landesmuseum, Stadtmuseum, Museum am Dom: Di - So 10 - 18 Uhr. Karl-Marx-Haus: tgl. 9 - 18 Uhr. Katalog 29,95 €. www.karl-marx-ausstellung.de
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