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Eine von vielen. Neben Stefan Puchers „Lulu“ an der Volksbühne (mit Lilith Stangenberg) gab es in dieser Saison deutschlandweit noch zahlreiche #MeToo-Stücke.
© Julian Röder, 2019

#MeToo-Stücke auf deutschen Bühnen: Wie sich das Theater von seinen Zuschauerinnen entfernt

In der vergangenen Spielzeit versuchten sich viele Regisseure an #MeToo-Theater. Ehrenwert. Doch die wirklichen Probleme schafften es nur selten auf die Bühne.

Der Theater-Kanon hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Zumindest für die Hälfte der Spezies. Da hocken die Gretchens, Amalias und Emilias im Windschatten heroischer Männer auf der Bühne, die schwer mit der Philosophie und der Weltpolitik beschäftigt sind, und barmen an Spinnrädern vor sich hin oder sterben wackere Tugendtode fürs Patriarchat. Im Saal sitzen Zuschauerinnen, die es gerade noch rechtzeitig aus ihrem Unternehmerinnen-Büro, der Kanzlei oder auch vom Scheidungsanwalt ins Theater geschafft haben, und registrieren gewaltige Anschlussprobleme.
Im Zuge der #MeToo-Bewegung ist dieser Widerspruch zwischen Bühnen- und Parkett-Realität, mit dem reflektierte Regisseurinnen und Regisseure sich schon länger rumschlagen, explizit zum Thema geworden. Im Theater, in dem auch heute noch zirka 70 Prozent der Inszenierungen von Männern stammen, wie aus einer 2016 von Ministerin Monika Grütters beauftragten Studie Frauen in Kultur und Medien“ des Deutschen Kulturrates hervorgeht, wird nicht nur auf struktureller Ebene über Gleichberechtigung nachgedacht. Sondern auch Die Frage, wie Frauen auf der Bühne eigentlich repräsentiert werden, dominierte gerade in der letzten Saison die Branche: Kaum ein Haus, das nicht einen „Gender-Schwerpunkt“ im Repertoire hatte, keine Projektbeschreibung, in der nicht das „Aufbrechen tradierter Geschlechterrollen“ Thema gewesen wäre.
So weit, so fortschrittlich. Aber wie sehen die Produktionen, die unter dem #MeToo-Label herauskommen, in der Bühnenpraxis tatsächlich aus? Das Erste, was auffällt: Es sind nicht selten Männer, die sich an die Spitze der dramatischen Frauenbewegung setzen. Die beiden jüngsten, auf den letzten Spielzeit-Metern noch herausgekommenen Abende zum Thema stammen von etablierten Regisseuren.

Der Regisseur als Genie

In Berlin, an der Volksbühne, hat sich Stefan Pucher mit Frank Wedekinds „Lulu“ die unter Gender-Gesichtspunkten wohl problematischste Frauenfigur vorgenommen. Sein emanzipatorischer Regiemasterplan besteht darin, die Protagonistin, die im Stück-Intro als „wildes, schönes Tier“ und „Urgestalt des Weibes“ vorgestellt wird, mit feministischen Texten – etwa der französischen Schriftstellerin und Regisseurin Virginie Despentes oder der Autorinnen Anna Gien und Marlene Stark – diskursfit zu machen. Gien, die sich im Magazin „Monopol“ unlängst heftig darüber beklagt hat, wie ihr und Starks feministischer Neukölln-Porno „M“ in Puchers „Lulu“-Inszenierung „verhackstückt“ worden sei, ist nicht die einzige, die findet, dass diese Idee auf der Bühne nicht wirklich funktioniert.
Am Schauspielhaus Bonn-Bad Godesberg wiederum hat sich Volker Lösch von der Bühnenbildnerin Julia Kurzweg das dem Vernehmen nach zentrale Theater-Möbel überhaupt aufs Szenario bauen lassen: die Besetzungscouch. „House of Horror. Theater, Frauen, Macht“ heißt der branchenselbstkritische Abend, an dem antiquierte Frauenrollen genauso beklagt werden wie machistische Inszenierungspraktiken und das virulente Selbstmissverständnis des gemeinen Regisseurs als Genie.

Schrumplige Plastikpenisse

Nun ist es prinzipiell unproblematisch und im Grunde sogar begrüßenswert, wenn männliche Regisseure die innerbetriebliche Emanzipation vorantreiben. Schließlich gelten die Fähigkeit zum Einnehmen anderer Perspektiven und die Lust am dialektisch-demokratischen Dialog als Markenkern des Theaters. Trotzdem bleibt es mindestens bemerkenswert, wenn eine – zumal oft identitätspolitisch argumentierende – Bühnen-Frauenbewegung sich von ihren männlichen Kollegen quasi #MeToo „mansplainen“ lässt.

Zumal die Regisseure dabei zu einer Form der Männlichkeitsselbstkritik neigen, die zwar ehrenwerte Absichten suggeriert, aber sozusagen überaffirmativ versackt. In Volker Löschs Theater-Horrorkabinett, dessen Text der Regisseur zusammen mit der Autorin Christine Lang entwickelt hat, treten brancheneigene Archetypen wie „der Intendant“ oder „Dieter Wedel“ als fleischgewordene Karikaturen auf, die statt Nasen gern mal schrumplige Plastikpenisse im Gesicht tragen.

Und Puchers feministisch upgedatete „Lulu“ sieht sich in Gestalt von Lilith Stangenberg einem Haufen derart armseliger Hampelmänner konfrontiert, dass man wirklich Schwierigkeiten hat, das zu bekämpfende Patriarchat, um das es ja gehen soll, auf der Bühne zu erkennen. Im Übrigen führt die Verzwergung der dramatischen Täter-Fraktion zwangsläufig zur Verkleinerung der Opferproblematik.

Sperma niesender Chef

Mal abgesehen davon, dass ein Großteil der Zeitgenossinnen im Parkett den öffentlich Sperma niesenden Chef oder das dauerdevote Partner-Würstchen sicher genauso wenig zu ihren Hauptproblemen zählt wie das barmende Gretchen am Spinnrad, fällt eine weitere Tendenz am #MeToo-Theater auf: Zwar gibt es kaum einen Abend, an dem nicht – zu Recht – der ultimative Bühnentod der Nullachtfünfzehn-90/60/60-Frau gefordert würde. „Die Verdrehten will ich spielen, die Schrägen, die Merkwürdigen, die Anderen“, rufen die Schauspielerinnen in Löschs „House of Horror“. Die, „die sich nicht benehmen können, Männern keine Geschenke machen“ und „nicht beruhigend sind“.

Ein ähnlich flammendes Plädoyer hält Puchers „Lulu“ für sämtliche Abweichungen vom Weiblichkeitsklischeekatalog. Dazu, ihr Vorhaben umzusetzen, kommen die Bühnenkolleginnen allerdings nicht. Bei den reaktionären Theaterstrukturen, die Volker Lösch in Bonn vorführt, sind sie im „House of Horror“ mutmaßlich noch länger damit beschäftigt, sich das Sperma vom kleinen Schwarzen zu wischen, mit dem die Penisgesichter während der Aufführung ihre nasale Ejakulationsfähigkeit unter Beweis stellen. Und Lulu dürfte sich derart aufgerieben haben zwischen ihrem Wedekind-Original und dem feministischen Dekonstruktionsversuch, dass für den Gedanken, aus dem ganzen Paradigma auszusteigen, einfach kein Raum bleibt.

Tatsächlich gehört es weit über Puchers „Lulu“ hinaus zu den beliebten #MeToo-Theater-Methoden, im dramatischen Kanon aus heutiger Sicht problematische Frauenbilder aufzuspüren. De facto ist es aber keine große Herausforderung. Die historisch bedingte Überholtheit dieser weiblichen Rollen liegt in der Regel so offensichtlich zutage, dass ihre Entlarvung oft nicht abendfüllend ist.
Die weitaus interessantere Frage lautet, wie Frauen in neuen Theatertexten vorkommen.

Der erstaunliche Befund: Selbst dort – in druckfrischen Stücken, die im #MeToo-Kontext entstanden sind – werden die „Verdrehten, Schrägen, Merkwürdigen, Anderen“ oft nur wortreich eingefordert statt tatsächlich auf die Bühne gebracht. Zwar stammen die Stücke, die in der vergangenen Saison zum Thema herauskamen, tatsächlich mehrheitlich von Frauen – obwohl einer Löschs „House of Horror“ abgelauschten Statistik zufolge 75 Prozent aller Bühnenstücke an deutschen Theatern von Männern geschrieben wurden.

Allein in Berlin, an den fünf großen Häusern BE, DT, Gorki, Schaubühne und Volksbühne, kamen vergangene Saison sieben Texte oder Projekte zur Uraufführung, die explizit auf #MeToo oder den aktuellen feministischen Diskurs reagieren; fünf von Autorinnen, einer von einem Autor und einer von einem geschlechtergemischten Duo. Geht man davon aus, dass die besagten Theater insgesamt vielleicht 15 oder maximal 20 Uraufführungen pro Saison herausbringen, ist das eine durchaus stattliche Zahl.

Die Bühnenrealität hinkt hinterher

Dennoch beziehen die meisten Stücke zum besagten Paradigma eher kritisch Stellung, als es auszuhebeln. Sie arbeiten sich häufig daran ab, was Frauen alles nicht (mehr) sein wollen, statt nach eigener Lust und Laune zu zeigen, wie sie ihrer Meinung nach sind oder gern wären. Der Lebenswirklichkeit, in der ja bekanntermaßen auch eine Bundeskanzlerin, eine Verteidigungsministerin und eine EU-Kommissionspräsidentin existieren, hinkt die Bühnen-Realität oft hinterher. Vielmehr entwirft die englische Dramatikerin Alice Birch in „Revolt. She said. Revolt again“ am BE eine Art Manifest des bewussten Geschlechterrollenfehlverhaltens und empfiehlt, den Stereotypen-Spieß mal umzudrehen. Letzteres tut auch Maja Zade mit ihrem Stück „Status quo“ an der Schaubühne.

Dort fachsimpeln Drogeriemarktchefinnen in Gesundheitslatschen über die körperlichen Vorzüge ihrer männlichen Auszubildenden, und Jungschauspieler baggern die Intendantin für die Titelrolle in „Emil Galotti“ an: Sexismus spiegelverkehrt, lustig und für beide Geschlechter durchaus Aha-effektreich, aber nicht weltbewegend.
Eine andere Art der Patriarchatskritik übt, wiederum am BE, Marlene Streeruwitz, wenn sie in „Mar-a-Lago“ weibliche Kollaborateurinnen aufeinander loslässt: Schauspielerinnen unterschiedlichsten Alters zerreißen sich den Mund über einen Regisseur, mit dem jede von ihnen mal etwas hatte und der sie alle „Mümmi“ nannte. Nicht, dass Patriarchatskomplizinnenschaft kein relevantes Thema wäre. Ein bisschen weniger Staub als in diesem Fall wäre allerdings schon erfreulich.

Problemgespräche im Seminartonfall

Die Dramatikerin Laura Naumann versucht sich in ihrem Text „Mit freundlichen Grüßen eure Pandora“ einem Stückauftrag fürs Staatsschauspiel Dresden, schließlich tatsächlich mal an den beschworenen „anderen“ Frauenrollen. Es geht um Mutter-Tochter-Beziehungen, lesbische Lebenspartnerschaften, Wissenschaftlerinnen, die Institute leiten sowie die Entwicklung ein künstliches Fortpflanzungsverfahrens, das komplett ohne männliche Mitwirkung auskommt. Leider bringt das ethische Problemgespräche im Seminartonfall mit sich, die ähnlich reißbrettartig wirken wie die Figuren.

Der Gestus von Naumanns Stück – ein Mix aus Zustands- und weiblichen Selbstbeschreibungen, Demütigungserfahrungen, dramatischer Science-Fiction und Empowerment – ist dabei für viele #MeToo-Theater-Abende verallgemeinerungsfähig.
So enthält auch Yael Ronens Berliner Gorki-Abend „Yes but No“ viele dieser Ingredienzen. Dabei begibt sich die israelische Regisseurin in ihrem gemeinsam mit dem Ensemble entwickelten Stück immerhin in bemerkenswerte Ambivalenzzonen. Sie führt in einem hochnotkomischen Duett die Unzulänglichkeiten von Sex-Verträgen vor, mit denen sich Kopulationspartner in spe der Zustimmung versichern sollen, und gesteht beiden Geschlechtern ihren Leidensdruck (wie auch überlebenswichtigen Humor) zu. Trotzdem: Über das alles in allem bekannte Status-quo-Referat in Sachen #MeToo kommt auch dieser Abend nicht hinaus. Es bleibt Luft nach oben.

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