Sechs Stunden Castorf-Theater in Salzburg: Fritten für den Führer
Fast wie einst an der Volksbühne: Bei den Salzburger Festspielen bringt Frank Castorf Knut Hamsuns Roman „Hunger“ auf die Bühne - sechs Stunden lang.
Er ist dieser Tage unausweichlicher als zu besten Volksbühnen-Zeiten: Frank Castorf zelebriert sein episches Auflösungstheater in Hamburg, Berlin und Salzburg, beherrscht die Operndrehbühnen in München und Bayreuth, erntet Lob von unwahrscheinlichster Seite. Zufrieden scheint das den einstigen Zaren von Rosa-Luxemburg-Platz aber nicht zu machen. Als es jüngst eine Moderatorin wagt, ihn auf sein Frauen-im-Fußball-im-Theater- Gleichnis anzusprechen (interessiert ihn nicht, gibt’s nicht), platzt dem so selbstverständlich Raum greifenden Regisseur vorm Radiopublikum der Kragen. Castorf poltert, Castorf ranzt und droht mit dem Ende des Live-Interviews.
Glamour muss nicht sein
Schmeckt dem Provokateur die eigene Suppe nicht mehr, die er aus einem lange schon vor sich hin köchelnden Topf auftischt? Hat es Castorf wirklich satt, nicht nur diese selbst verschuldete Nachfragerei, sondern das ganze Theater?
Sein Salzburger Sommergastspiel unter dem Titel „Hunger“ lässt auf Elementares dazu hoffen. Vor den Toren der Stadt, auf der Perner-Insel in Hallein, ist Castorf mit Teilen seines ehemaligen Volksbühnen-Ensembles ganz alleine, geschieden vom Glamourbedürfnis der Festspiele. Er ist dort auch einem Ort näher, an dem es 1943 zu einer abgründigen Begegnung kam: Auf dem Obersalzberg trifft der norwegische Literatur-Nobelpreisträger Knut Hamsun auf den von ihm als Erlöser gepriesenen Adolf Hitler. Der greise, beinahe taube Schriftsteller erhitzt sich und brüllt den Führer an, der ist konsterniert und lässt seinen seltsamen Bewunderer stehen. Dennoch schreibt Hamsun nach Hitlers Selbstmord unerschütterlich: „Er war ein Krieger, ein Krieger für die Menschheit.“
Nazi-Quark und Sammelbildchen
Castorf liebt Autoren, die schillern, die sich den Zeitläuften nicht mit weißer Weste zu entziehen wussten, die braunen Dreck am Stecken haben wie Bronnen und Céline. Hamsun kommt ihm da wie gerufen, und ohne Vorbehalte mischt er Texte aus dessen ersten Romanen „Hunger“ (1890) und „Mysterien“ (1892) mit späteren Übermensch-Fantasien. Zur Klarstellung werden Hakenkreuze auf der Bühne verteilt, mal offensichtlich, mal als Vexierspiel. Dazu gibt es norwegische Nazi-Plakate und Werbung für Pervitin, jenes Methamphetamin, das Hunger und Angst dämpft und als „Hermann-Göring-Pille“ wach und kampfbereit machen sollte.
Für Freunde von Nazi-Quark pikant ist die Hausnummer 88 – Neonazi-Anspielung auf den Hitlergruß – am Nachbau einer McDonald’s-Filiale. Heil, Burger: Den klassischen Volksbühnen-Dreikampf von Kapitalismus, Elend und Faschismus bannt der virtuose Ausstatter Aleksandar Denic noch einmal in schicke Sammelbildchen. Und als Nachschlag gibt’s Wirtschaftswunder, bis alle kotzen.
Mit einem flauen Gefühl in der Magengrube beginnt die sechsstündige Suche nach Nahrung. Josef Ostendorf hockt auf einer Treppenstufe und sinniert darüber, wie ihm der Finger Gottes in den Kopf fuhr und dort ein Loch zurückließ. Eine Hungerfantasie, die der beleibte Mime unter sich steigerndem Rülpsen und Würgen auswirft. Hamsuns Erfahrungen als brotloser Literat, der etwas schaffen will, um seinen Hunger zu stillen, der aber an nichts als seinen Hunger denken kann, erzeugen einen wilden Strom völlig widersprüchlicher Entäußerungen. Durch den Erfolg seines „Hunger“-Romans wurde er satt, aber nicht weniger bedürftig, wie seine vergeblich nach Sinn buddelnden „Mysterien“ zeigen. Castorf mixt das durcheinander, doch es ist Marc Hosemann, der die Hauptlast des physischen Hungers zu ertragen hat. Er tut das mit irrlichternder Intensität, kratzt die Farbe von den Wänden, trinkt sein eigenes Blut. Wahnsinn will aus jedem Blick sprechen, während der Körper immer weiterpumpt, wie auf Pervitin, das hier die Durchhalte-Regie übernommen hat.
Artisten in der Burger-Braterei
Für Sophie Rois, Kathrin Angerer und Lilith Stangenberg hält Castorf in den ersten drei Stunden erschreckend wenig Spielmaterial bereit. Angerer darf sich in der Burger-Braterei nützlich machen, Rois muss Hakenkreuze hecheln und bewegt sich nahe am Rand des Stimmverlusts. Allgemein hat sich die Meinung durchgesetzt, Castorf könne jetzt große Oper, und das will als Lob verstanden sein. Doch wer Oper wirklich kann, achtet auf die Stimmen und hütet sich vorm bloßen Hinschmieren.
In der tragfähigen Akustik der ehemaligen Saline muss man nicht brüllen, umso deutlicher ist zu hören, wenn nichts klingt. Ostendorf verschluckt seinen Text und zerkaut lustlos „Leise flehen meine Lieder“ hinter der Führermaske. Als Frittentüte kommt er kurz zu sich, doch sein Partner Rocco Mylord im Würstchen-Kostüm füllt nicht mal dieses aus.
Nach der Pause ist plötzlich sehr viel Platz auf den Sitzbänken. Die Literaturdozentin eine Reihe weiter hinten erklärt dem jungen Mann neben ihr, dass Hamsun der Erfinder des Stream of Consciousness sei. Klar, Joyce nannte ihn nicht ohne Grund „Old King Cnut“. Doch wer redet hier von Bewusstsein? Castorf lässt seine letzten Getreuen allein in jenem „Delirium aus Schwäche und Erschöpfung“, das Hamsun an Körper und Seele durchlitt. Daniel Zillmann singt einen Blues auf der Burger-Theke, Lars Rudolph hält sich die plötzlich liebestoll gewordene Lilith Stangenberg mit Trompeten-Röcheln vom Hals. Aus den Lautsprechern dringt wieder mal „Johnny’s always running around / Trying to find certainty“. Dann wird die Natriumdampfleuchte gezündet, die langsam alle Formen und Farben löscht. Viel Zerstörungswerk bleibt ihr diesmal nicht zu tun.
Weitere Aufführungen am 10., 11., 13., 15., 17. und 20. August.