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Seit acht Wochen muss die Mutter der Autorin allein auf ihrem Zimmer im Altenheim essen. In Berlin sitzen die Leute derweil in Scharen am Ufer des Landwehrkanals und in den wiedereröffneten Cafés.
© Sebastian Golnow/dpa

Corona und die Lockerungen: Wie mit dem Zwiespalt der Emotionen umgehen?

Die Sehnsucht nach der Menge und die Scheu davor: Die Krise provoziert den Widerstreit der Gefühle. Ein Selbstgespräch.

Ich führe jetzt wieder Selbstgespräche, und bin den Mauerweg geradelt. Corona hat die Grenzen verwischt, drinnen und draußen, ich und die anderen, Home und Office, man findet sich nicht mehr zurecht. Ich wollte es wissen: Was kann man heute noch sehen, hier Westen, da Osten, nach 30 Jahren? Ich würde gern wissen: Was kann man heute schon sagen, am Anfang vom Ende des Lockdowns, über die Spuren, die Narben, die bleiben?

Mehr häusliche Gewalt, mehr Weglaufkinder, die auf der Straße landen, steht in der Zeitung. Und, dass Berlin 8,3 Milliarden Euro an Steuereinnahmen einbüßen wird. Vor der Zukunft steht eine Mauer, die Mauer ist im Kopf, und das Kopfkino läuft ununterbrochen. Hurra, die Staatsmacht greift durch; ich freue mich über den Wachschutz, der die Kunden im Drogeriemarkt in ihre Schranken weist, und würde am liebsten überall Aufpasser postieren. Menschen, die sich vor Autoritäten ducken, habe ich eigentlich immer verachtet.

Ich ärgere mich über den Kerl, der auf die Straße spuckt, die rempelnde Radlerin macht mich aggressiv. Bleibt mir vom Leib. Genauso ärgere ich mich über die eigene Intoleranz.

Verändert das Virus mein Wesen? „Das Leben ist tödlich“, höre ich mich in der Online-Konferenz den jungen Kollegen belehren, „aber das Alter ist keine Krankheit.“ Der Kollege ist doch nicht Boris Palmer. Wenn es stimmt, dass die Krise das Beste und das Schlechteste einer Gesellschaft zum Vorschein bringt, kehrt sie vielleicht auch das Beste und das Schlechteste in mir selber hervor.

Der Fuchs stromert über den Bürgersteig

Unter der Maske wird es heiß vom eigenen Atem. Es ist nicht die Sonne, man ist es nur selbst. Der Pianist Igor Levit schlägt im Twitter-Konzert die Hände über dem Gesicht zusammen, derart bewegt, als sei er sein eigenes Publikum. Wir skypen, simsen und zoomen und sind in uns selbst eingesperrt.

Die globale Pandemie macht den Radius klein. Das Klima, die Flüchtlingslager, der Egoismus des Westens schiebt sie weit weg. Die Gaststätten sind wieder offen.

In Manhattan sind sie noch zu. Die New York Public Library hat „Missing Sounds of New York“ ins Netz gestellt, das Rattern und Kreischen der U-Bahn, die „Romantik des Berufsverkehrs“, eine Taxifahrt, den Lärm der Nachbarschaft.

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Auf meinem Berliner Balkon balgen sich die Spatzen, der Fuchs stromert über den Bürgersteig. Die Rückkehr der Natur, der Schmerz und die Schönheit der Stille, das hört nun langsam wieder auf.

Gesteigerte Wahrnehmung, überwache Sinne, es ist ein Luxusphänomen. Die Bronx ist eine war zone, sagt die Freundin in Manhattan, in den Krankenhäusern dort herrscht der Ausnahmezustand. Während wir videochatten, ploppt die Push-Nachricht von Millionen hungernden Amerikanern auf.

Die Freundin geht nur früh morgens aus dem Haus, um kurz durch den Park zu spazieren. Die Mutter ruft an, vom anderen Ende der Republik, seit acht Wochen muss sie alleine auf ihrem Zimmer im Altenheim essen. Hier in Berlin sitzen die Leute wieder in Scharen am Ufer des Landwehrkanals, mit Wegbier und Picknick.

Ein, zwei Quadratmeter Schreibtisch. Krümel auf dem Laptop. Arbeitsplatz, Essplatz, Konferenzraum, alles dasselbe. Kreisverkehr der Gedanken, es fehlt die Kontaktbörse namens Kantine, der Flurfunk, das Büro als Inspirationsquelle und soziales Biotop. Amorphe, diffuse Zeit, gibt es deshalb so viele Corona-Tagebücher?

Der Mensch braucht klare Demarkationen

Viel zu viel Gegenwart, zu viel Freiheit, höchstens Online-Termine, die den Tag strukturieren. Wie soll man sich da konzentrieren? Entweder ich bekomme kalte Füße vom stundenlangen Stillsitzen oder springe alle paar Minuten auf. Jeder Vorwand ist recht, und sei es, dass die Blattläuse von der Kletterpflanze gewischt werden müssen.

Wieder das Erschrecken über einen selbst, diese luxuriöse Melancholie. Die Pflegerinnen und Pfleger im Altenheim der Mutter würden bestimmt gerne kalte Füße kriegen und sich mit Konzentrationsschwächen herumschlagen. Sie tragen Mundschutz von morgens bis abends, trösten bei Depression und Demenz, organisieren Balkonkonzerte für die Bewohner, haben Tablets angeschafft. Manchmal sehe ich meine Mutter jetzt im Videochat.

On und Off, Familie und Beruf, Arbeit und Freizeit, der Mensch braucht klare Demarkationen. Oder vielleicht doch nicht? Andere Grenzen treten schärfer zutage denn je. Die zwischen Sozialstaat und nacktem Kapitalismus. Zwischen Demokratien und Demokraturen, von der drohenden Dauereinschränkung der Freiheitsrechte in Diktaturen zu schweigen.

Zwischen denen, die auf engstem Mietwohnraum versuchen, sich die Köpfe nicht einzuschlagen, und denen mit Villen im Grünen, samt Schaukel für die Kleinen. Zwischen Menschen, die unter Einsamkeit leiden, und Paaren, die sich im doppelten Homeoffice samt Kindern ohne Analog-Schule und Kita nach dem Alleinsein sehnen. Nichts mischt sich mehr. Manche Schüler sind digital gut versorgt, andere komplett im Stich gelassen.

Die Teilzeit-Schulöffnung bis zu den Ferien gleicht das nicht aus. Auch die Geschlechtertrennung ist wieder da. Frauen sehen sich ins Kinder-Küche-Kümmern-Dasein zurückkatapultiert, Männerthemen wie Fußball und Autos dominieren die Nachrichten. Krisen sind schlecht für die Emanzipation.

Lässt die Angst langsam nach

Lässt die Angst langsam nach? Die Infektionszahlen sinken, der Spaltpilz beginnt zu wuchern. Wird es ein Spaltpilz wie die Flüchtlingsfrage und die AfD, die Familien zerrissen, Freundschaften zerstört haben? Der Staat gängelt, schimpfen die einen, viel zu locker das alles, fürchten die anderen. In den Talkshows steht neben dem Virus auch die Ausbreitung der Verschwörungstheorien auf der Agenda.

Der Bruder rechnet Nullkomma-Prozent-Wahrscheinlichkeiten für eine Ansteckung beim Gang in den Supermarkt aus. Beim Friseur (hurra, ein Friseurtermin!) sagt der Kunde am Nebenplatz, die Wirtschaft sei jetzt dran, sollen doch die Risikogruppen zu Hause bleiben. Ich bin 61, meint er mich? Meine Nachbarin mit Vorerkrankung? Ein Bekannter schickt einen Link, in dem die Alten und die Kollateral-Toten des Shutdowns gegengerechnet werden. Das Heim meiner Mutter erlaubt jetzt Besuche von 45 Minuten, einmal die Woche. Einen Tag Bahnfahrt für eine Dreiviertelstunde, nie war die Entfernung so groß.

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Eine Gesellschaft im Widerstreit. Das ist nicht die neue, sondern die alte Normalität. Wieder führe ich Selbstgespräche, streite mich mit mir selbst über die aktuellen Regeln und die eigene Inkonsequenz. Treffe ich jetzt regelmäßig die Freunde aus einem einzigen weiteren Haushalt, oder alle paar Tage verschiedene aus anderen Haushalten? Sehe ich meine Enkel weiter nur im Freien? Soll ich auf den geplanten Österreich-Urlaub hoffen und falls es nichts wird: Wie überfüllt ist Brandenburg im Sommer?

Die Sehnsucht nach der Menge und die Scheu davor halten sich die Waage. Identität setzt die Möglichkeit der Abgrenzung voraus, also fehlen einem all die Herdentriebmomente, das Büro, die Philharmonie, die Party, das Stadion. Nie war mir so klar, was live bedeutet. Die Seele der Gesellschaft, die eigene Seele, davon erzählen die Künste, sie hätten jetzt so viel zu verhandeln. Aber diejenigen, die es in Echtzeit tun können, sind zum Schweigen verdammt.

Die Gesellschaft braucht die Kultur - und umgekehrt

Abgesagte Premieren, Hunderte Festivals finden nicht statt. Ich vermisse sogar die Begleiterscheinungen dieser Agora namens Kultur. Den Moment im Konzert, in dem jemand in die Generalpause hustet. Die gespannte Stille nach dem Schlussakkord. Den Applaus, diese Euphorie der Gleichgesinnten. Das kollektive Lachen im dunklen Kinosaal, jener Höhle, in der man für sich bleibt und doch beieinander ist. Das Stimmengewirr im Theaterfoyer.

Die Gesellschaft braucht die Kultur, und die Kultur braucht Gesellschaft. Was sind Künstler ohne Publikum. Die reale Anwesenheit der Schauspieler auf der Bühne, die sich körperlich nahe sind, sich anfassen, in Clinch geraten, die Reaktion der Menschen im Saal und sei es das leise Knarzen der Stühle – das alles kann das neue Wir-Gefühl im Netz nicht ersetzen. Kein noch so schöner Flow der Herzchen am Bildschirmrand, kein noch so grandioses Splitscreen-Gesamtkunstwerk wie der Bolero der Juilliard-Studenten und -Lehrer, der Disziplingrenzen sprengt.

Bei einem Marathon ist die Länge bekannt, bei der Pandemie nicht. Wie kann man Open End auf Sicht fahren? Zweite Welle, Leben im Konjunktiv, Verwirrung, Überforderung. 300 000 Tote weltweit, Prominente, die gestorben sind, nahe Menschen, die beinahe gestorben sind. Und immer noch ist da der Gedanke, Covid-19 ist unsichtbar, irreal, es ist alles nicht wahr, ich umarme jetzt meine Mutter und tolle mit den Enkeln herum.

Wir machen uns locker. Wer schafft es schon, den Tod nicht zu verdrängen. Die Träume sind wild in diesen Tagen.

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