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Zwischen Realität und Wahn: Eine Szene aus „No Longer Human“.
© Viz

Gezeichnetes Grauen: Wie Junji Ito den Horror in neue Höhen treibt

Der japanische Horror-Mangaka Junji Ito wird international gefeiert. Hierzulande ist sein Werk erst noch zu entdecken.

Er sei ein Künstler der kurzen Form, sagte Junji Ito einmal in einem Interview. Lange Geschichten verunsicherten ihn. Für die erste These lassen sich mit den 2017 und 2019 auf Englisch veröffentlichten Kurzgeschichtensammlungen „Shiver“ und „Smashed“ zwei Beispiele aus jüngerer Vergangenheit finden, in denen der 56-jährige Japaner seinen Stil bis zur Perfektion treibt.

Er baut langsam Atmosphäre auf, seine Panels sind voller Details. Der Horror zieht mehr und mehr über jede Seite an, oftmals durch deformierte Gestalten und Körper. Auf beachtlichem Niveau. Aber eben immer wieder: Genre. Horror noch dazu. Und jetzt: Hochkultur.

Denn mit „No Longer Human“ hat Ito vor Kurzem das zweitmeistgelesene Buch der japanischen Geschichte in einen Manga übertragen. Auf Deutsch trägt der Roman, der als eines der wichtigsten Werke der japanischen Nachkriegsliteratur gilt, den Titel „Gezeichnet“. Kürzlich erschien der Manga in gesammelter Form auf Englisch (Viz, 616 S., ca. 30 €).

Für das Magazin „Big Comic Original“ sollte Ito eine Geschichte zeichnen. Dessen Leser sind zum größten Teil mittelalte Männer. Itos Redakteur suchte nach einem erwachsenen Stoff, der sich adaptieren ließe. Er bot dem Künstler mehrere Vorlagen an. Zu „No Longer Human“ fand Ito schnell einen Zugang.

Alkoholismus, Süchte, Angstzustände

Das Buch von Osamu Dazai, das 1948 erstmals veröffentlicht wurde, enthält zahlreiche Parallelen zum Leben des Autors: Alkoholismus, Süchte, Depressionen, Angstzustände. In der Adaption von Ito vermischen sich diese Grauen der Realität mit Wahn, Halluzinationen und Albträumen. Die Hauptfigur Yozo Oba taumelt dabei durch ein Leben voller Selbsthass und zahlreicher Liebschaften, die oftmals im Tod enden.

Auf mehr als 600 Seiten öffnet sich bei Ito das Schicksal eines unsympathischen wie authentischen Charakters. Immer wieder zieht Oba sich selbstgerecht auf seinen Weltschmerz zurück. Der Horror wird subtiler, unbewusster und doch erschütternder. Selbst wenn es einmal in die Hölle und zurück geht.

Gezeichnet: Das Cover der US-Ausgabe von „No Longer Human“.
Gezeichnet: Das Cover der US-Ausgabe von „No Longer Human“.
© Viz

Nur die Konsequenzen treiben Oba an die Grenzen des Verstands und schlussendlich in eine geschlossene Klinik. Wie Ito all diese Momente in den Rhythmus seiner Layouts packt, wie er Hoffnung aufbaut und wieder zerschmettert, ist große Kunst. Er setzt die Größen der Panels hier sehr bewusst, lässt das Auge mal länger auf Ungeheuerlichem verweilen, mal kürzer auf kleinen Dingen, die für Unwohlsein sorgen. Wie etwa ein kaputter Drachen, den ein Kind mit sich herumträgt und der immer wieder auftaucht. Die Perspektive geht nah ran, zieht den Leser in dieses Unbehagen.

Auf Deutsch gibt es bislang nur einen Titel

Derzeit erhalten Junji Itos Werke vor allem in den USA viel Aufmerksamkeit. Nicht nur stehen auf der Veröffentlichungsliste seines US-Verlags bereits die nächsten Titel für die kommenden Monate, „Uzumaki“ wird zudem als Anime beim US-Sender Adult Swim erscheinen. Aber was ist mit dem deutschen Markt? Bislang ist hier außer „Uzumaki“, von dem im vergangenen Jahr ein Sammelband bei Carlsen erschienen ist, noch kein weiteres Werk von Itos bislang 30 Büchern veröffentlicht worden.

„Uzumaki“ erzählt in schwarz-weißen Bildern davon, wie ein ganzes Dorf besessen ist von einer Spirale, die als Motiv wieder und wieder auftaucht. Subtil schürt der Zeichner Ängste und Atmosphäre. Wo erst nur ein Augapfel in einer Spirale verschwindet, löst sich wenige Momente später ein Mensch in Luft auf. Die Spiralen-Obsession der Bewohner wandelt sich vom Wahn hin zur Körperlichkeit, wenn Haare sich türmen und auf den Rücken mancher Schüler plötzlich Schneckenhäuser wachsen.

Die Handlungsstränge ergeben erst nach und nach einen Zusammenhang. Die Atmosphäre ist das verbindende Element. Dabei ist der große Trick von Ito, dass sein „Ding auf der Schwelle“ (H.P. Lovecraft) nie greifbar wird. Es gibt keine Erklärung für das, was in dem Dorf vor sich geht. Keine Rachegeister, wie sie oft im asiatischen Horror vorkommen. Keine rationalen Phänomene mit doppeltem Boden.

Von der Spirale besessen: Eine Szene aus „Uzumaki“.
Von der Spirale besessen: Eine Szene aus „Uzumaki“.
© Carlsen

„Nach dem Erfolg von ,Uzumaki‘ geht es in diesem Jahr bei uns weiter mit Junji Ito“, sagt Kai-Steffen Schwarz, Programmleiter bei Carlsen Manga. „Um welchen Titel es sich handelt, können wir im April verraten, wenn wir die kommenden Neustarts melden.“ Auch Itos aktuellen Manga „No Longer Human“ habe man natürlich auf dem Radar.

Horror-Manga als „solide Nische“

Generell gibt es nur wenige Horror-Manga in deutscher Übersetzung. Auf dem US-Markt zeigen sich Verlage in diesem Bereich mutiger, die Leser vielleicht offener. „Dafür gibt es andere Manga-Segmente, die im hiesigen Markt mehr Vielfalt bieten als in den USA, zum Beispiel Shojo-Manga oder lebensnähere Slice-of-Life-Stoffe“, sagt Schwarz. Shojo bezeichnet Manga für Leserinnen bis 18, Slice of Life steht für Titel, die sich an Alltagssituationen der Protagonisten abarbeiten, oft unaufgeregt und konfliktarm.

Das Cover des deutschen Sammelbandes von „Uzumaki“.
Das Cover des deutschen Sammelbandes von „Uzumaki“.
© Carlsen

„Horror ist natürlich ein weites Feld, als Subgenre ist es Bestandteil in einer ganzen Reihe von Mainstream-Manga“, sagt Schwarz. Wie etwa „Doubt“, „Judge“, „Elfen Lied“ oder „Highschool of the Dead“. Titel dieser Art konnten Schwarz zufolge mitunter fünfstellige Verkäufe im deutschen Markt erreichen.

Realistischer oder etwas schräger gezeichnete Werke haben es etwas schwerer, so hätten die Werke von Hideshi Hino (auf Deutsch bei Schreiber + Leser) zum Beispiel viel mehr Aufmerksamkeit verdient, ebenso wie „I Am A Hero“ von Kengo Hanazawa.

Als „solide Nische“ bezeichnet Schwarz Horror-Manga in Deutschland. Wobei es stark von der grafischen Umsetzung der Geschichte abhänge, ob der Manga ein Publikum findet. Das dürfte bei Ito zumindest gesichert sein. Schließlich fragten Leser immer wieder mal bei Carlsen nach weiteren Werken von ihm.

Björn Bischoff

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