Zwischen Prävention und Paranoia: Wie ein Comic die Corona-Maske vorwegnahm
Die Hauptfigur im Horror-Comic „Gideon Falls“ trägt seit Jahren eine Schutzmaske, wie sie plötzlich omnipräsent ist. Die Autoren erklären, wie es dazu kam.
Lange bevor Schutzmasken wegen der Corona-Pandemie weltweit zum Alltagsphänomen wurden, erregte in der Comicwelt einer ihrer Träger besondere Aufmerksamkeit: Norton Sinclair, Hauptfigur der mit einem Eisner Award ausgezeichneten Horror-Serie „Gideon Falls“, die seit gut zwei Jahren bei Image Comics veröffentlicht wird und auf Deutsch im Splitter-Verlag erscheint.
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Norton ist ein Einzelgänger, der mit einer Atemschutzmaske auf dem Gesicht durch die Großstadt streift und Abfalleimer durchwühlt, um darin Spuren einer Verschwörung zu finden. Seiner Psychiaterin berichtet er von Holzsplittern und Nägeln, die zu einer schwarzen Scheune gehören sollen, die ihm regelmäßig im Traum erscheint - und die in einer Kleinstadt steht, auf der ein Fluch zu lasten scheint.
Wir haben den kanadischen Serienautor Jeff Lemire und den italienischen Zeichner Andrea Sorrentino zur Herkunftsgeschichte ihres Maskenträgers und zur aktuellen Situation befragt.
Tagesspiegel: Die Hauptfigur Ihrer Horror-Comicserie „Gideon Falls“, Norton Sinclair, trägt in der Öffentlichkeit ständig eine schützende Gesichtsmaske. Aufgrund der Covid-19-Pandemie sind solche Masken in den vergangenen Wochen weltweit zu einem festen Bestandteil des öffentlichen Lebens geworden. Wie fühlt es sich an, dass unsere Städte plötzlich voller Menschen sind, die wie Norton Sinclair aussehen?
Jeff Lemire: Es ist auf jeden Fall sehr surreal. Als wir Norton erfunden haben und Andrea ihm vor drei oder vier Jahren die Gesichtsmaske verpasst hat, hatte natürlich noch niemand die aktuelle Situation auf dem Radar. Es ist sehr seltsam zu sehen, dass Masken wie die von Norton inzwischen zur neuen Normalität in der Gesellschaft gehören.
Andrea Sorrentino: Eigentlich sollte Norton nur auf den ersten zwei oder drei Seiten der Geschichte eine Maske tragen. Aber ich habe mich dann aus mehreren Gründen dazu entschlossen, sie zu einem Teil seines endgültigen Looks zu machen.
Welche Gründe waren das?
Andrea Sorrentino: Zum einen ist es wichtig, bei der Arbeit an Comics, in denen keine Superhelden in sofort erkennbaren Kostümen die Hauptrolle spielen, den Figuren einen unverwechselbaren Look zu geben. Das können auch Details sein, die diese Figur sofort erkennbar machen, sei es auf einem Titelbild oder in jedem beliebigen Panel. Und mit der Maske, die wir für Norton Sinclair gewählt haben, ist er eindeutig zuzuordnen, auch wenn ihn mal ein anderer Künstler auf einem Variant-Cover zeichnet. Außerdem passt der Look perfekt zu seiner Persönlichkeit und seinen Ängsten.
Jeff Lemire: Ich hatte vor einem Jahrzehnt eine erste Version von Norton geschaffen. Dieser frühe Norton hatte viele der gleichen Obsessionen und paranoiden Ängste, aber er trug keine Maske. Das war dann Andreas Idee, die Figur damit auszustatten.
Wie fanden Sie das?
Jeff Lemire: Erst gefiel mir das gar nicht, weil ich dachte, dass sie seine Emotionen zu sehr verbergen würde. Aber Andrea fand zu Recht, dass die Maske Norton ein klareres Aussehen verleihen und auch seine Gefühle verstärken würde, seine Angst und sein Bedürfnis, sich von der Welt abzuschotten und sich zu schützen. Und jetzt erleben wir, dass ganz ähnlich Dinge in der realen Welt um uns herum passieren.
Andrea Sorrentino: Ja, ich weiß, Du hattest Deine Zweifel, Jeff, dass die Maske seine Emotionen verbergen könnte. Aber ich denke wirklich, dass es andere Möglichkeiten wie Perspektiven, Schatten oder Körpersprache gibt, um einer Figur die Möglichkeit zu geben, ihre Gefühle zu kommunizieren. Außerdem liebe ich Masken! Ich möchte in Zukunft einen Comic mit lauter Figuren machen, die all die verschiedenen Masken tragen! Ich konnte Jeffs Zweifel an der Maske lange spüren.
Wie äußerte er diese Zweifel?
Andrea Sorrentino: In dem ersten Handlungsbogen der Geschichte schrieb Jeff regelmäßig Szenen, in denen Norton seine Maske abnahm – und ich setzte ihm sie dann kurz danach wieder auf. Inzwischen sind wir an dem Punkt, dass er aufgegeben hat. Und ich denke, dass die Maske im Endeffekt - wie viele andere gestalterische Elemente der Geschichte, wie die Kreise oder die Käfer - Teil der visuellen Sprache wird, die wir für „Gideon Falls“ entwickelt haben. Die Maske symbolisiert einfach, wenn sich eine Figur verwundbar fühlt und einen Schutz von außen benötigt. Es gibt im weiteren Verlauf der Geschichte auch eine Szene, in der eine andere Figur die Maske tragen wird – und zwar in einem Moment, in dem sie sich verletzlich und verloren fühlt.
Die Covid-19-Pandemie hat die Comicszene tief getroffen. Gleichzeitig wurden viele kreative Anstrengungen unternommen, um sich gegenseitig zu helfen, manche Künstler fühlen sich von der Notlage sogar inspiriert, neue Werke zu schaffen. Wie würden Sie die wichtigsten Auswirkungen der Krise auf Ihre Arbeit und auf die Comicszene beschreiben?
Jeff Lemire: Es ist unglaublich beängstigend. Viele Verlage und Comic-Händler kämpfen darum, die aktuelle Situation zu überleben. Ich wünschte, ich könnte sagen, ich hätte mich von all dem inspirieren lassen, aber das stimmt nicht. Es ist nur beängstigend und lähmend. Es fällt mir sehr schwer, mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Wenn überhaupt, brauche ich jetzt Geschichten mehr denn je als Flucht vor der Realität.
Andrea Sorrentino: Ich sehe täglich mit meinen Augen, wie beängstigend die Situation ist, da ich in Italien lebe. Ich hoffe, dass wir bald wieder zur Normalität zurückkehren können und dass die Dinge nicht zu dramatisch sein werden, wenn wir aus dieser Krise herauskommen.
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