Berliner Dächer (5): Wer sagt denn, dass Beton nicht klingt?
Toll, was alles im Dach der Berliner Philharmonie steckt: Lärmschutz, jede Menge Technik – und man kann sehen, warum der Saal ein Instrument ist, mit der Decke als Schalldeckel. Eine Expedition.
Das größte Wunder der Philharmonie ist ziemlich klein und oben im Dach versteckt. Es sieht aus wie ein Korken mit einer Art Moosgummiplatte davor und einem Stahldraht-Abhänger, an dem die mit Dämmmatten belegte Saaldecke hängt. Ein Elastomer-Element, erklärt Ludwig Falta, der oberste Gebäudemanager. Dutzende dieser elastischen Gebilde sorgen dafür, dass die Saaldecke mitschwingen kann mit der Musik. Ähnlich wie der hölzerne Leib eines Cellos oder wie ein Klavierdeckel. Der Korken und die Platte verwandeln die Philharmonie in einen einzigen riesigen, 26 000 Kubikmeter fassenden Resonanzkörper. Oder wie Simon Rattle sagt: „Der Saal ist das Instrument“.
Wir stehen im Dachraum der Philharmonie, an den höchsten Stellen ist er fünf Meter hoch. Vorher hat der Fahrstuhl uns – den Fotografen und die Reporterin – sechs Stockwerke nach oben befördert, wir sind mit Ludwig Falta weitere Treppen gestiegen, haben auf dem südlichen Austritt den Blick bis weit in den Westen schweifen lassen, sogar das Corbusierhaus an der Heerstraße erspäht und ein paar Schritte auf dem nördlichen Flachdach riskiert. Die Folieneindeckung, die seit dem Brand 2008 das leicht entzündliche Bitumen ersetzt, ist butterweich unter den Füßen.
Drüben im Glashaus des Sony-Centers essen sie gerade zu Mittag, und auf dem Nachbardach des Musikinstrumentenmuseums sind zwei Imker bei ihren Bienenstöcken zugange. Die Wabenplatten besitzen die gleiche honiggelbe Farbe wie die Aluminiumhaut der Philharmonie.
Schon das Außendach des Scharoun-Baus hat einiges zu bieten. In der Mitte erhebt sich das geschwungene Steildach mit hinterlüfteter Holzschale, Dämmung und Aluminiumeindeckung. Oben auf dem First thront der Phoenix, die geflügelte Skulptur von Hans Uhlmann. Ludwig Falta macht uns auf das Blitzschutzsystem mit Fangstangen und Metallleitungen aufmerksam; die kleinen besiebten Töpfchen am Boden dienen als Einlässe fürs Regenwasser; hinzu kommen Antennen, Scheinwerfer, Entrauchungsklappen, die Kühlgeräte der Lüftungsanlage. Ganz schön viel drauf auf so einem Dach.
Die strahlend goldene Fassade der Philharmonie sieht so ganz aus der Nähe übrigens trübe aus. Was daran liegt, dass die 1981 nachträglich angebrachten Aluminiumstrukturplatten eine durchscheinende, aber matte Kunststoffverkleidung besitzen. Hans Scharoun wollte eine transluzente Haut, die war wegen der Kostenexplosion beim Bau in den Sechzigern (von geplanten sieben auf finale 17 Millionen Mark, im Rückblick ein Spottpreis!) nicht finanzierbar. Deshalb gab’s erstmal die berüchtigte schnöde Betonfassade, hilfsweise gelb angemalt. Erst neun Jahre nach dem Tod des Architekten konnte sein Assistent Edgar Wisniewski die Goldhaut realisieren. Da das Material brennbar ist, ist zusätzlich eine Fassadenlöschanlage mit zahllosen Sprühköpfchen angebracht.
Der hohe Dachraum dämmt die Außengeräusche, dazu gibt's überall Akustikmatten
Jetzt aber rein ins Dachinnere, in den Hohlraum zwischen der tragenden, sieben Zentimeter dicken Betondecke, an der die Saaldecke hängt, und der oberen, nochmals mit Akustikmatten gedämmten Holzkonstruktion samt Alublechhaut. Dass der Luftraum über dem berühmten verschachtelt-fünfeckigen Saal so groß ausfällt, hat zunächst mit dem Stadtraum zu tun. Der Dachspeicher dämmt die Außengeräusche, den Straßenverkehrslärm und damals in den sechziger Jahren sogar die Überschallflugzeuge, die einst durch den Himmel über Berlin donnerten. Auch die sollten den Musikgenuss bitte nicht stören.
Keine Frage, die der oberste Hausmeister des Zirkus Karajani nicht beantworten könnte. Ludwig Falta sagt nicht Dämmung, sondern Bedämpfung, weiß, dass die Außenverkleidung der Goldfassade aus Epoxidharz besteht und dass die vielen kleinen Betonhütchen auf der mittleren Decke die Stahlseile verkappen, damit sie im Brandfall nicht ausglühen. Die Saaldecke nennt er Rabitzdecke.
Rabitz? Ein riesiges Drahtgeflecht, ausgefüllt mit einem Mörtelgemisch inklusive Tierhaare. Die Haare verhindern, dass es zu Rissen kommt, so bleibt die Resonanzdecke dicht und die Akustik der Philharmonie verlässlich. Und sie reagiert wie gesagt auf die Frequenzen der Töne, die vom Orchesterpodium bis hierhin emporsteigen, 22 Meter hoch. Ludwig Falta kniet sich hin, um uns unter dem Gitterrostboden das entscheidende Elastomer-Element zu zeigen. Die Kunst steckt im Detail: Hier spielt die Musik. Ein Augenblick der Ehrfurcht.
Allein 70 Mikofonwinden und zehn Lautsprecherzüge gibt es im Dach
Wenn Simon Rattle der Maestro der Philharmoniker ist, ist Ludwig Falta der Maestro der Philharmonie. Er kennt hier jede Schraube. Sein Orchester sind die Leute von den Fachfirmen, die das Gebäude in Schuss halten. Sie kümmern sich zum Beispiel um die 70 elektromotorischen Mikrofonwinden und die zehn Lautsprecherzüge im Dachstuhl, überall schwarze, verkabelte Kästen auf je eigenen Metallgestellen. Und um die sogenannte Obermaschinerie, Prospektzüge, die mit Scheinwerfern oder Übertitelungsdisplays bestückt werden können.
Die größte Herausforderung ist die Unsichtbarkeit
Überhaupt beherbergt das Dach neben der äußeren Alu-Holz-Haut, der mittleren Beton- und der unteren Saaldecke, neben Entrauchungsanlage und Akustikmatten (sogar noch über der Betondecke!) eine eigene Technikebene. Für die Mitschnitte und Aufnahmen der Digital Concert Hall, aber auch für den berühmten Sternenhimmel, den schon Scharoun so nannte. Mal darüber nachgedacht, wie das Licht in den Saal kommt?
Falta lüpft eine Art Gullideckel, der Beton ist damit übersät, ähnlich den Bunker-Pilzen einst in Enver Hoxhas Albanien. Am Lampenkabel vorbei erblicken wir tief unten das Orchesterpodium, das Herz des Saals. Ein senkrechtes Bullauge, ein maritimes Guckloch, typisch Scharoun. Damit der Sternenhimmel lückenlos strahlt, müssen ständig defekte Leuchtmittel ersetzt werden. Bei 404 „Sternen“ und 55 Tubusleuchten steigen Falta und seine Leute der Philharmonie häufig aufs Dach.
Der Gebäudemanager ist begeistert von Scharouns solider, vielfach genialer Architektur
Nächstes Jahr feiert der Gebäudemanager sein 25-jähriges Dienstjubiläum. Er sagt, die größte Herausforderung sei die Unsichtbarkeit. „Entscheidend ist, dass alles im Hintergrund passiert. Der Besucher soll nicht merken, wie viel Technik notwendig ist, um die Philharmonie zu betreiben. Die Sicherheitsvorkehrungen, also die Alarm-, Lösch- und Brandmeldeanlagen müssen in Schuss sein, damit das Haus für die Besucher wie die Musiker jederzeit geöffnet und sicher genutzt werden kann.“
Da Scharoun und sein Team nicht nur solide, sondern vielfach auch genial planten und bauten, sei das machbar. „Nach über 50 Jahren steht das Haus immer noch gut und sicher da.“ So nüchtern er technische Details ausführt, jetzt schwingt Stolz mit in seiner Stimme. Selbst beim Brand 2008, ausgelöst durch Dachdeckerarbeiten mit offener Flamme, habe sich gezeigt, wie durchdacht das Gebäude sei. Es gab kaum Schäden im Saal, auch nicht vom Löschwasser. Und bei den vielen Starkregen in diesem Sommer kam es nur an den Glasdächern im Foyerbereich zu kleinen Undichtigkeiten; das eigentliche Steildach hielt den Wassermassen problemlos stand.
Faltas Lieblingsort in der Philharmonie findet sich ebenfalls unweit des Dachs. Vorbei an der bunten Kabelage im Treppenhaus – für eine noch bessere 4-K-Videoqualität der Digital Concert Hall wird in der Sommerpause ein neues Leitungsnetz eingezogen – gelangen wir zum höchsten Seitenrang. Hier bei den Sonderplätzen gleich neben der Schuke-Orgel ist man der Saaldecke mit ihren pyramidenförmigen Helmholtz-Resonatoren und den Schallsegeln überm Podium am allernächsten.
Hier blickt man aus der Vogelperspektive auf Scharouns Weinbergsarchitektur mit den 2400 Plätzen, hier kann man es am besten wahrnehmen: das Instrument Philharmonie mit seinem gewaltigen Resonanzraum. Von der exzellenten Akustik zu schweigen. Falta macht auf den Amphitheater-Effekt aufmerksam. Unten redet einer leise auf dem Podium, und man kann es hier oben gut hören.
Der nächste Konzertbesuch in der Philharmonie wird anders sein. Wenn der Sternenhimmel gedimmt ist und die Musik einsetzt, wird der Blick häufiger nach oben gehen, dorthin, wo die Töne die Decke zum Schwingen bringen.
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