50 Jahre Philharmonie Berlin: Mehr Demokratie hören
Einst umstritten, heute Ikone: Vor 50 Jahren wurde die Berliner Philharmonie eingeweiht. Hans Scharoun hatte erfolgreich für seinen visionären Konzertsaal gekämpft. Eine Zeitreise.
Werner Oelmann war dagegen. „Die Philharmonie“, schrieb der Tagesspiegel-Musikredakteur 1957, „soll nicht nur der Konzertsaal der Zukunft, sondern auch der Vergangenheit sein.“ Irrwitzig erschien ihm die Idee des Architekten Hans Scharoun, das Orchester in die Mitte der Halle zu platzieren! Die Symphonik des 19. Jahrhunderts, befand der Fachmann, sei nur dann richtig zu genießen, wenn sich Musiker und Publikum gegenübersäßen, wenn „ein aktiver, auf den Hörer zielender Impuls“ von der Bühne ausstrahle. Sitzreihen, die sich wie Weinbergterrassen um einem Talkessel erheben? Absoluter Humbug! Die Kreisform, schäumte Oelmann, „mag für primitive Verhältnisse, für die Musikveranstaltungen von Naturvölkern und die Promenadenkonzerte der Militär- und Kurkapellen gelten“ – auf den Edelklangkörper des Philharmonischen Orchesters angewandt aber berge Scharouns „verschwommener, romantisierender Formbegriff“ die Gefahr, „dass zugunsten einer architektonischen Sensation die rechte, sinngemäße Vermittlung der großen Musik verfälscht wird“.
Die Berliner Philharmonie gilt als einer der gelungensten Konzertsäle der Welt
Hier irrte der Kritiker. Heute gilt die Berliner Philharmonie als einer der gelungensten Konzertsäle der Welt, als Architekturikone des 20. Jahrhunderts, ja als Prototyp für das demokratische Bauen schlechthin. Mit diesem Gebäude wirkte Scharoun stilbildend. In der Kölner Philharmonie oder dem Leipziger Gewandhaus, in der Tokioter Suntory Hall, dem Musikkitalo Helsinki oder der Disney Hall in Los Angeles wurde die Form aufgegriffen. Und auch in der Elbphilharmonie werden die Zuschauer rund ums Orchester sitzen, sollte das Hamburger Prestigeprojekt je fertig werden.
Der auf den Tag genau vor 50 Jahren eröffnete Stammsitz der Berliner Philharmoniker ist eine Kathedrale der Kunst – und zugleich ein menschenfreundliches Gebäude. Ausdruck der humanistischen Grundhaltung, die alle Arbeiten Scharouns prägt. Während etwa der Rundbau der Royal Albert Hall in London die Trennung des Publikums nach Preisgruppen zementiert, indem dort Besitzer günstiger Tickets andere Eingänge und Foyers benutzen müssen als die der hochpreisigen, können die Besucher in der Philharmonie frei im Saal zirkulieren. Ungehindert lassen sich die 13 Meter Höhenunterschied überwinden, vom bühnennahen Block A bis zu den Sonderplätzen in Block G ganz oben unterm Dach. Und andersherum.
Hans Scharoun wollte, dass die Zuschauer direkt dabei sind
Ebenso radikal gedacht ist die Platzierung der Ausführenden in der Mitte des Gemeinschaftsraumes. Sie macht den Hörer vom passiven Konsumenten zum genuin notwendigen Teil des Geschehens. Es gibt nicht mehr die da oben auf der Bühne und uns da unten im Zuschauerraum, sondern nur noch ein gemeinsames Wir. Das meinte Scharoun, wenn er die gewünschte Hörhaltung mit den Worten beschrieb: „Wir meinen nicht Müßiggang, sondern freie Muße, schöpferische Muße“. So etwas hatte es noch nie gegeben, selbst in den experimentierfreudigen 20er Jahren nicht.
Wie neuartig dieser Ansatz auf die Zeitgenossen Scharouns wirkte, wie herausfordernd und politisch brisant, lässt sich rückblickend kaum ermessen. „Das abgeschnittene Entgegensein von Orchester und Publikum ist aufgegeben, um einer freien und offenen Gesellschaft im Vorbild der musikalischen Gemeinde zur raumgeformten Wirklichkeit zu verhelfen“, erklärte Berlins Kultursenator Adolf Arndt am 15. Oktober 1963 in seiner pathossatten Eröffnungsrede. „Hier ist Demokratie als Bauherr am Werk gewesen. Ohne den Ernst des Entschlusses, dass unser Volk gewillt ist, sich eine neue Ordnung zu geben, wäre dieses Bauwerk so nicht erdacht und vollendet worden.“
Die Philharmonie diente dem "Schaufenster des Westens"
Nichts weniger als die Stein gewordene geistige Grundhaltung der neuen Bundesrepublik sollte diese Philharmonie sein. Und mit Blick auf die zwei Jahre zuvor direkt hinter dem Gebäude errichtete Mauer fährt Adolf Arndt fort: „Dem Übermaß jener Düsternis, die uns mit ihrer Wüste bedroht, setzt Hans Scharoun und mit ihm das freie Berlin auf dem äußersten Punkt, der jetzt gewagt werden kann, in der Philharmonie das Bekenntnis zum Musischen entgegen, die reinster Klang aus Mitmenschlichkeit ist und darum Glaube an die Kraft der Freiheit.“
Ein Konzertsaal als Bollwerk der Frontstadt gegen die rote Gefahr. Für die Stadtväter war es also ein Glück im Unglück, dass sie die Heimstatt der Philharmoniker vom ursprünglich vorgesehenen Bauplatz an der Wilmersdorfer Bundesallee 1959 an den Tiergartenrand verlegt hatten. Denn nun konnten die von sieben auf 17,5 Millionen Mark angewachsenen Baukosten zumindest symbolisch als Ausgaben für die Aufhübschung des „Schaufensters des Westens“ verbucht werden.
Begonnen hatte das Ringen um einen Ersatz für die 1944 zerbombte alte Philharmonie bereits in der Frühphase des Kalten Krieges. Am 25. September 1949 gehörten Politikgrößen wie Heuss, Adenauer und Reuter zu den Gründern der „Gesellschaft der Freunde der Berliner Philharmonie“. Treibende Kraft des Vereins aber wurde neben dem Dirigenten Wilhelm Furtwängler der Tagesspiegel-Chefredakteur Erik Reger. Mit Lotterien und Benefizkonzerten akquirierte die Bürgerinitiative bis 1955 rund 1,5 Millionen Mark – und erzwang damit förmlich eine Zuschuss-Zusage von der Bundesregierung aus Bonn.
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Im Jahr darauf fand endlich ein Architekturwettbewerb statt, bei dem nach 16-stündiger Jurysitzung mit neun gegen vier Stimmen Scharouns exzeptioneller Entwurf als Sieger gekürt wurde. 63 Jahre alt war der Baumeister damals bereits, emeritierter Ordinarius für Städtebau an der Berliner TU und Präsident der neu gegründeten Akademie der Künste. Ein prominenter Kopf, der bis dato allerdings keine größeren Projekte hatte verwirklichen können. Die Nazis verfemten ihn als „Kulturbolschewisten“, doch auch die meisten vor 1933 und nach 1945 entwickelten Pläne wurden als unrealisierbar abgelehnt, zuletzt der siegreiche Entwurf für den Wiederaufbau des Kasseler Stadttheaters. Darum sollte es diesmal nun unbedingt gelingen: Neun lange Jahre würde Scharoun für sein visionäres Meisterwerk kämpfen müssen, gegen wütende Kritiker und chronisch klamme Kämmerer.
Immerhin hatte er in Herbert von Karajan einen wirkmächtigen Fürsprecher. Der Maestro war von einem mittig platzierten Podium sofort überzeugt – auch wenn er selber den klassischen antidemokratischen Pultdiktatorentyp verkörperte. Warum Karajan die Vorstellung faszinierte, vom Publikum umgeben zu sein? War es wirklich die Hoffnung darauf, dass sich die kollektive Aufmerksamkeit in so einem Saal maximieren lässt? Oder verlockte ihn die Vorstellung, künftig in jeder Hinsicht den absoluten Mittelpunkt des Geschehens bilden zu können? Scharoun jedenfalls, der „bullige, wortkarge Nachtarbeiter und Nichturlauber“ („Der Spiegel“) konnte sich daran machen, eine kühne Idee in Beton zu gießen.
Zum Glück steht die Philharmonie nicht an der Bundesallee
Zunächst freilich unter der Prämisse, die Philharmonie als Anbau am Joachimsthalschen Gymnasium in Wilmersdorf zu realisieren. In einer gerade vom Wasmuth Verlag herausgebrachten Monografie lässt sich anhand von umfangreichem Skizzenmaterial erkennen, wie der neuartige organische Bau aus der klassizistischen Schulhaus-Architektur herauswächst. Im Inneren wiederum ragen luftige Treppenbänder wie Fühler in das historische Gehäuse hinein, das auch als Windfang vor den eigentlichen Foyers gedient hätte. Im Altbau sollten Orchesterverwaltung und Probenräume Platz finden, dort, wo heute die Bar jeder Vernunft auf der tristen Parkpalette thront, hätte der Saal gestanden.
Versteckt wäre die Philharmonie an der Bundesallee gewesen, verschenkt die spektakuläre Wirkung. Die konnte der wegen seiner Zeltdachform schnell „Zirkus Karajani“ getaufte Bau erst als Solitär auf dem Kulturforum entfalten. Unglaublich, welche handwerkliche Präzision und geistig-mathematische Feinarbeit in Zeiten vor dem Computer für die Pläne notwendig waren! 890 Tage dauerten die Bauarbeiten, als im August 1961 plötzlich die Hälfte der Handwerker nicht mehr zur Arbeit erscheinen konnte. So schufteten die übrigen statt fünf nun sechs Tage die Woche, um den Eröffnungstermin halten zu können. Dennoch war nicht alles fertig, als am 15. Oktober die ersten Töne von Beethovens Neunter erklangen.
Jetzt musste sich zeigen, ob die Gegner recht behalten würden: Die Verfechter der traditionellen Schuhkarton-Form konnten sich einfach nicht vorstellen, dass sich der Klang in einem aus drei ineinanderverschachtelten Fünfecken gebildeten Raum so kanalisieren lässt, dass auf allen 18 Weinberg-Terrassen gleich gute akustische Bedingungen herrschen – und sich die Musiker in der Mitte auf dem Podium auch noch selber hören können. Lange hatte Scharoun mit dem TU-Professor Lothar Cremer an den Details gefeilt, den Neigungswinkel einiger Wände verändert, 136 pyramidenförmige Helmholtz- Reflektoren unter der Decke angebracht – und schließlich das ursprünglich in einem Stück geplante Schallsegel in ein Mobile aus mehreren Einzelteilen zerlegt.
Herbert von Karajan verfeinerte den Konzertsaal
Das Wagnis gelang, der Saal klang. Herbert von Karajan musste im Live-Test nur noch die Höhenstaffelung der Musikerpodeste dazu erfinden – seitdem gehört die Philharmonie zu den besten Konzertsälen der Welt.
Nur Werner Oelmann, der angry old man des Tagesspiegels, gab bis zuletzt nicht nach. In seiner Rezension des Eröffnungskonzerts ist zu lesen: „Die moderne Gesellschaft will ihr Kunstwerk ganz und ohne Geheimnis besitzen, sie umschließt es im Kreis und sieht sich als Komparserie ihres eigenen Festes. Konzert ist nicht mehr Verkündigung einer anderswoher klingenden Botschaft. Musik ist säkularisiert, in die Mitte der realen Welt gestellt.“ Was den Kritiker so verbitterte, wissen die Besucher der Philharmonie heute besonders zu schätzen