Kolumne „Spiegelstrich“: Wer hält noch gute Reden im Bundestag?
Eine Umfrage zur Kunst der Rede im Bundestag mit erstaunlichem Ausgang: Christian Linder spricht am besten, es folgt Annalena Baerbock. Eine Kolumne.
Klaus Brinkbäumer war zuletzt Chefredakteur des „Spiegel“ und arbeitet heute als Autor unter anderem für „Die Zeit“. Für den Tagesspiegel schreibt er seine wöchentliche Kolumne „Spiegelstrich“ über Sprache und Politik.
Die grandiose Rede, so lehrt es Cicero, Meisterredner und Redemeister, macht die Zuhörenden klüger und erregt und beglückt sie; die grandiose Rede vermittelt also erstens Fakten (und zwar bittesehr neue), weckt zweitens Gefühle und unterhält, drittens.
Ciceros römische Schüler sollten ihre Reden in sieben Kapitel gliedern: Einstieg, Analyse des Problems, Lösung, beispielhafte Geschichte, Argumentation, Widerlegung der Antithese und Schlusspointe. Ganz schön komplex, aber nicht übermenschlich. Wer also kann’s?
Zu Weihnachten habe ich eine kleine Umfrage unter 15 Fachmenschen aus Hauptstadt-Journalismus und Politik gemacht. Die Fragen: Sind Berliner Reden heute schwächer als vor 15, 30, 45 Jahren? Und wer redete 2019 am besten?
„Gute Redner im Bundestag werden seltener“, schreibt mir der „Welt“-Kollege Robin Alexander. „Grund: Die Abgeordneten zielen immer stärker darauf, mit ihren Reden 30-Sekunden-Clips für ihr Stammpublikum auf social media zu produzieren. Die Idee, Skeptiker oder gar Gegner zu überzeugen oder wenigstens zu beeindrucken, gerät in den Hintergrund.“ Christian Lindner (FDP), zwölf von 15 möglichen Nennungen, gewinnt meinen Wettbewerb.
Das Publikum will keine Polemik, glaubt Lindner
Er zerpflückt den Haushalt der Regierung, ist oft komisch, nicht auszurechnen. Erfolgsgeheimnis? „Ich schreibe mir eine Postkarte mit Gliederung“, so Lindner, und eine derart grobe Struktur gibt Halt und zwingt doch zur Spontaneität; meist kramt Lindner seine Postkarte am Rednerpult dann gar nicht hervor. Die Reden im Bundestag übrigens „sind heute nicht per se schlechter“ als einst, „aber anders. Systemfragen scheinen sich nicht mehr zu stellen, Polemik wird auch vom Publikum nicht mehr im Übermaß geschätzt“, schreibt Lindner.
Annalena Baerbock (Bündnis 90/Grüne) folgt mit elf Punkten auf Platz zwei, weil sie furchtfrei die Kombination von gedanklicher Schärfe und Gefühl sucht. Beim Grünen-Parteitag erklärte Baerbock ihr politisches Wirken damit, dass sie einst ihrer jüngeren Tochter versprochen habe, alles zu tun, um gegen die Klimakrise zu kämpfen. Hätte ein Mann so etwas gesagt? Ein grüner Mann, 2019, vielleicht. Aber Joschka Fischer, Gerhard Schröder? Helmut Kohl, Erich Honecker?
Baerbock sagt: „Ich hatte das mehrfach in Manuskripten stehen und habe es stets wieder rausgestrichen. Diesmal stand es nicht drin, passte aber.“
Annalena Baerbock glaubt gleichfalls nicht, dass rhetorisches und intellektuelles Niveau gesunken seien, sagt aber, „der Rahmen“ sorge bisweilen für Langeweile: dass nämlich in Deutschland Redezeit nach Fraktionsgröße zugeteilt wird. „Eine große Koalition bedeutet automatisch Wiederholungen“, sagte Baerbock am Donnerstag am Telefon, „hauchdünne Mehrheiten oder freie Abstimmungen sorgen hingegen für Reden, in denen für etwas gekämpft wird.“
[Sie erreichen ihn unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de oder auf Twitter unter @Brinkbaeumer]
Es stimmt: Im Europaparlament, wo Mehrheiten je nach Thema wechseln können und die Redezeit für alle Fraktionen gleich ist, geht es leidenschaftlicher zu als im Bundestag. Auf Platz drei: Wolfgang Schäuble, gefühlvoller Zyniker und in zehn von 15 Antworten genannt, was mich nicht wunderte. Philipp Amthor von der CDU wurde ebenso oft nominiert, was mich überraschte, denn Amthor ist 27 Jahre alt. Er greift die AfD an, lustvoll, und macht das mit einer Methode, die der AfD eher fremd ist: Witz.
Das Verfolgerfeld: Cem Özdemir und Britta Haßelmann von den Grünen und Konstantin Kuhle von der FDP.
Ja, liebe SPD, ich habe es auch bemerkt: Für eure Besten gab es leider keine Nennung. Bestimmt ist’s mein Fehler. Im nächsten Jahr frage ich 100 Menschen vom Fach. Oder 1000.
Klaus Brinkbäumer