zum Hauptinhalt
Szene aus "Muškarci ne plaču – Men don’t cry" von Alen Drljević.
© Manderley Films

Bosnien nach dem Mladić-Urteil: Wenn Männer endlich weinen

Bosnien ringt noch immer mit einer Vergangenheit, die nicht vergehen will. Besuch in einem vielfach geteilten Land nach der Verurteilung von Ratko Mladić.

Unter dem wuchtigen Dach des Markale Marktes im Zentrum von Sarajevo leuchtet eine bunte Hügellandschaft aus Mandarinen, Äpfeln, Nüssen und Gemüse. Liebevoll aufgeschichtet von den Händlerinnen und Händlern, die hinter ihren Tischen auf Kundschaft warten. Noch heller als die Früchte leuchtet an diesem Nachmittag die bordeauxfarbene Wand am Rand. Die Sonne steht schon so tief, dass sie genau auf das Glas fällt, hinter dem eine lange Reihe von Namen aufgelistet ist. Sie gehören zu den 67 Menschen, die hier im Februar 1994 durch eine serbische Granate getötet wurden.

In der Mitte des Marktes hat Bera Bešlagić ihren Stand. Auch ihr Name hätte an der Wand stehen können. Dass es nicht so gekommen ist, war reiner Zufall. „Ich verkaufte kleine Kuchen, um ein bisschen Geld für die Familie zu verdienen“, erinnert sie sich. „Aus irgendeinem Grund habe ich an diesem Tag meinen Rucksack anbehalten.“ Das hat sie vor den umherfliegenden Schrauben und Splittern der Holztische gerettet. Die Erinnerung an diesen Horrortag ist sehr präsent, allein schon durch das Denkmal, sagt sie und schaut über ihre rechte Schulter hinüber zu dem Gedenkstein.

Umkehrung des Opfernarrativs

Damals war Bera Bešlagić 30 Jahre alt. Mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Massaker ist Ex-General Ratko Mladić nun als einer der Hauptverantwortlichen für die völkermörderische, fast vierjährige Belagerung der bosnischen Hauptstadt zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Bešlagić hat sich die Urteilsverkündung angeschaut, doch groß kommentieren will sie das Strafmaß nicht. „Er hat bekommen, was er verdient hat“, sagt sie. Viele ihrer Landsleute im kroatisch-bosniakischen Teil von Bosnien und Herzegowina empfinden ähnlich. Nach dem Richterspruch aus Den Haag gab es keine Freudenfeste, der Applaus der Hinterbliebenengruppe „Mütter von Srebrenica“ in der Gedenkstätte Potocari dürfte die emotionalste Reaktion im Land gewesen sein. Ansonsten herrschte eher stille Genugtuung über ein bisschen späte Gerechtigkeit.

Völlig gegensätzlich waren die Reaktionen in der Republika Srpska, dem serbischen Teil Bosnien und Herzegowinas. Präsident Milorad Dodik sprach von einer „Ohrfeige für die serbischen Opfer“ und nannte Mladić einen Helden, der einen „neuen Genozid an den Serben“ verhindert habe. Genauso sehen das viele Mladić-Fans im Land. Ihrer Meinung nach war der Internationale Gerichtshof, der nun seine Arbeit abgeschlossen hat, ein gegen die Serben gerichtetes politisches Gericht. Dieser Trotz und die Umkehrung des Opfernarrativs sind typisch für den radikalen serbischen Nationalismus in Bosnien.

Der kommt seit November auch in einem neuen Denkmal zum Ausdruck, das dem einstigen russischen UN-Botschafter Witali Tschurkin gewidmet ist. Der im Februar verstorbene Politiker hatte vor zwei Jahren sein Veto gegen eine britische Srebrenica-Resolution eingelegt, die das Massaker an über 8000 muslimischen Männern und Jungen 1995 als Genozid verurteilen wollte. Dafür, dass dies nicht geschehen konnte, sagt eine serbische Bürgerinitative nun mit einem schwarzen Marmordenkmal Danke – auf Russisch. Eigentlich hätte sie das Monument gerne in Srebrenica errichtet, was scheiterte. Jetzt steht es in Ost-Sarajevo, dem in der Republika Srpska gelegenen Teil der Stadt.

Geteiltes Land, geteilte Städte

So zerrissen wie die Hauptstadt ist das ganze 3,5-Millionen-Land. Wobei die Trennung nicht nur zwischen dem serbischen und dem kroatisch-bosniakischen Landesteil verläuft, sondern auch innerhalb des Letzteren. Mostar etwa ist eine geteilte Stadt, obwohl die im Krieg zerstörte Weltkulturerbe-Brücke über die Neretva wiederaufgebaut wurde. Am östlichen Ufer liegt die bosnische, am westlichen die kroatische Seite. Auch das Prinzip der „zwei Schulen unter einem Dach“ – landesweit gibt es davon über 30 – findet man hier. Dabei werden Schulgebäude im Schichtsystem genutzt: Die Hälfte des Tages werden die kroatischen Kinder unterrichtet, die andere Hälfte die bosniakischen – nach unterschiedlichen Lehrplänen.

Diese Zerstückelung und teils absurde Poporzpolitik findet man auf allen Ebenen. Sie ist eine Folge des Dayton-Abkommens, das 1995 zwar den Krieg beendete, doch auch die Spaltung festschreibt. Durch die Zweiteilung des Landes ist der Gesamtstaat schwach, noch immer überwacht ein UN-Repräsentant die Regierungsgeschäfte, die von einem dreiköpfigen Präsidententeam geführt werden. Es besteht aus einem Bosniaken, einem Kroaten und einem Serben, die jeweils nur von ihrer Gruppe gewählt werden können. Dasselbe gilt für das Parlament. Minderheitenangehörige können sich nicht zur Wahl stellen, wogegen 2009 ein Jude und ein Rom vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichthof klagten. Sie bekamen recht, Bosnien und Herzegowina wurde aufgefordert, sein Wahlrecht zu ändern. Geschehen ist das nicht, im nächsten Oktober stehen Parlamentswahlen an.

Korruption und Nepotismus sind weitere große Probleme des Staates, dem immer mehr Menschen den Rücken kehren. Bosnien hat die höchste Auswanderungsquote der Westbalkanstaaten. Vor allem junge Menschen gehen ins Ausland, wobei Deutschland – etwa bei medizinischem Fachpersonal – sehr beliebt ist.

Wenn Männer endlich weinen

Weil Perspektiven für die Zukunft fehlen, richtet sich der Blick immer wieder zurück in eine Vergangenheit, die nicht vergehen will. Das spiegeln auch Bücher und Filme aus der Region. Gerade läuft in den bosnischen Kinos Alen Drljevićs Debütspielfilm „Muškarci ne plaču – Men don’t cry“, der sich um eine Gruppe von Veteranen dreht. Sie haben während der Balkankriege auf verschiedenen Seiten gekämpft und sind schwer traumatisiert. In einem Hotel in den bosnischen Bergen nehmen sie an einer Gruppentherapie teil. Widerwillig beginnen sie, einander von ihren Erfahrungen zu erzählen. Immer wieder bricht Wut und Aggression aus den Männern hervor, die sich gegenseitig als Tschetniks und Ustascha beschimpfen, um wenig später einträchtig über ihre Diagnosen zu fachsimpeln oder sich im Suff zu verbrüdern.

Besetzt mit hochkarätigen Schauspielern wie Leon Lučev und Emir Hadžihafizbegović, berührt einen das Kammerdrama vor allem in den Rollenspiel-Szenen. Die Ex-Kämpfer sagen Sätze, die sie damals nicht sagen konnten – mit der Hilfe von Männern, die einst als ihre Feinde galten. Heute sind sie alle auf der gleichen Verlierseite. Wobei Drljević keine Relativierung der Schuldfrage betreibt. So ist klar, dass der serbische Veteran an den schlimmsten Gräueltaten beteiligt war, dennoch denunziert ihn der Film nicht.

„Muškarci ne plaču“ geht für Bosnien ins Oscar-Rennen, und man kann ihm nur wünschen, dass ihn viele Menschen in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens sehen. Vielleicht wirkt er ja ein bisschen wie eine Gruppentherapie. Bera Bešlagić braucht allerdings keine. Mit einem Blick auf das Denkmal sagt die 54-Jährige, deren Bruder im Krieg getötet wurde: „Hier sind alle gestorben: Kroaten, Serben und Muslime“. Jeden Tag wird sie daran erinnert. Und sagt doch: „Ich kann nicht alle Serben oder Kroaten hassen. Für mich gibt es nur gute und schlechte Leute.“ Dann füllt sie eine Papiertüte mit Nüssen und Trockenobst „Bera – Kvalitet – Markale“ steht drauf. Geld will sie dafür nicht.

Dieser Text entstand im Rahmen des Journalistenaustauschprogramms „Nahaufnahme“ des Goethe-Instituts.

Zur Startseite