Višegrad: Die Brücke, das Blut und der Dichter
Der Nobelpreisträger Ivo Andrić hat Višegrad dem Roman "Die Brücke über die Drina" bekannt gemacht. Nun errichtet der serbische Regisseur Emir Kusturica ihm zu Ehren ein ganzes Vergnügungsviertel. Von den serbischen Verbrechen des Bosnienkriegs will man dort nichts wissen.
Sanft und dunkelgrün schiebt sich die Drina an Višegrad vorbei. Genauso ruhig fließt das Leben neben ihr in der Hauptstraße dahin. Auf den Terrassen der Cafés summen die Wespen um die Limonadengläser. Vereinzelt betreten Kunden das klotzige Kaufhaus am zentralen Platz. Einmal wird es laut: Ein Lastwagen kippt eine Fuhre Brennholz auf den Bürgersteig.
Die Kleinstadt im Osten Bosniens unweit der serbischen Grenze sieht aus wie ein ganz gewöhnlicher Ort der bergigen Gegend – bis man am Ende der Straße die Mehmed-Paša-Sokolović-Brücke erreicht. In elf breiten Bögen überspannt sie den Fluss und strahlt eine verwitterte Eleganz aus. Nach schweren Weltkriegsschäden wurde sie immer wieder rekonstruiert und vor sechs Jahren ins Unesco-Weltkulturerbe aufgenommen.
Nur wenige Besucher schlendern an diesem Sommernachmittag hier entlang. Ein Souvenirhändler hat seinen Stand in der Mitte aufgebaut. Er heißt Vladimir, und seine Spezialität sind selbstbedruckte Kieselsteine. Es gibt zwei Motive: die Brücke und den Schriftsteller Ivo Andrić. Um die Qualität seiner Arbeit zu demonstrieren, rubbelt er kurz mit einem der Steine über seine Shorts und zeigt ihn vor. „Kann man nicht abwischen“, sagt er stolz.
Die Brücke und der Dichter sind die Stars von Višegrad. So wenig man ihre Bilder von Vladimirs Steinen wischen kann, so wenig sind ihre Namen von der Geschichte der Stadt zu trennen. Ivo Andrić, der als Sohn kroatisch-katholischer Eltern 1892 in der Nähe des bosnischen Travnik zur Welt kam, verbrachte hier seine Kindheit. Weil sein Vater früh starb und seine Mutter arm war, wuchs er bei Tante und Onkel in Višegrad auf. Sie wohnten unweit der Brücke, über die Andrić während des Zweiten Weltkrieges seinen bekanntesten Roman schrieb: „Die Brücke über die Drina“. Er gilt als sein Meisterwerk und brachte ihm 1961 als einzigem jugoslawischen Autor den Literaturnobelpreis ein.
Die knapp 180 Meter lange Brücke ist die Protagonistin seines drei Jahrhunderte umfassenden Panoramas, das mit der Erbauung von 1571 bis 1577 durch den in Bosnien geborenen und in Istanbul ausgebildeten Großwesir Mehmed Paša Sokolović beginnt. Višegrad wird durch sie zu einem wichtigen Verbindungspunkt zwischen Istanbul und Sarajevo. Imperien, Religionen und Kulturen treffen hier aufeinander.
Andrić zeichnet eine Art Wimmelbild aus islamischen Geistlichen, serbischen Handwerkern, jüdischen Hotelbetreiberinnen und österreich-ungarischen Soldaten. Die meiste Zeit funktioniert das multikulturelle Miteinander. Doch immer wieder kommt es zu Gewaltausbrüchen wie im Sommer 1914. Über die Zeit nach dem Attentat auf Franz Ferdinand in Sarajevo heißt es im Roman: „Wer damals mit reiner Seele und offenen Augen lebte, der konnte sehen, wie sich eine ganze Gesellschaft in einem Tage verwandelte. Verschwunden war in einem Augenblick diese Stadt, die auf einer jahrhundertealten Tradition aufgebaut war“.
Die mehrheitlich muslimische Bevölkerung wurde vertrieben oder getötet
So gut diese Sätze die Situation vor 99 Jahren beschreiben, so gespenstisch genau umreißen sie auch, was in Višegrad vor 20 Jahren geschah: Die Stadt verschwand ein weiteres Mal – diesmal wurden nicht Serben, sondern Muslime gejagt: Zwischen 1992 und 1995 führten serbische Paramilitärs, Polizeieinheiten und Banden einen systematischen Tötungs- und Vertreibungsfeldzug gegen die muslimische Bevölkerungsmehrheit durch. Frauen wurden massenhaft vergewaltigt. Laut Opferverbänden kamen 3000 der damals 21 000 Einwohner zählenden Gemeinde ums Leben. Auch auf und neben der Brücke wurden Menschen getötet, ihre Leichen ins Wasser geworfen.
Heute leben rund 11000 Menschen in Višegrad, fast ausschließlich Serben. Lediglich 1500 meist ältere Bosniaken (bosnische Muslime) sind in den letzten zehn Jahren hierher zurückgekehrt, sagt Bilal Memišević. Der 44-Jährige verlor seine Eltern bei den Massakern und ist heute Vorsitzender der Islamischen Gemeinde und Mitglied des Stadtparlamentes. Er setzt sich für die Rückkehrer sowie den Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur ein. Zwei kleine Moscheen mit Minaretten stehen bereits wieder an der Hauptstraße. Doch insgesamt geht es nur mühsam voran: „Man muss sich ständig einmischen, mit lauter Stimme sprechen, um auch nur das kleinste bisschen zu erreichen,“ sagt Memišević, der tatsächlich ein ziemlich energischer und kaum zu unterbrechender Redner ist. Es scheint nicht anders zu gehen in dieser Stadt, die seit dem Kriegsende zum serbischen Teil Bosniens und Herzegowinas gehört, der Republika Srpska. Sie orientiert sich an Belgrad, nicht an Sarajevo. Wie in Serbien wird das kyrillische Alphabet benutzt, die Flagge ähnelt der serbischen, man schaut serbisches Fernsehen, trinkt serbisches Bier.
Das Schicksal der Bosniaken und ihrer Häuser interessiert da weniger. Die Priorität in Višegrad liegt derzeit ohnehin auf einem anderen Bauprojekt: Auf der Landzunge zwischen der Drina und dem Rzav entsteht ein völlig neuer Stadtteil mit dem Namen Andrićgrad. Er wird zu Ehren des Nobelpreisträgers für rund 17 Millionen Euro auf dem 23 000 Quadratmeter großen Terrain des zuvor abgerissenen Sportzentrums errichtet. Die Arbeiten begannen vor zwei Jahren. Einige Restaurants, Geschäfte, Kneipen sowie ein Kino und eine Buchhandlung sind bereits eröffnet. Die Gassen sind belebt. Auf dem zentralen Platz steht eine 2,40 Meter hohe Ivo-Andrić-Statue aus Bronze. Gerade lässt sich ein Mann im Muskelshirt neben ihr fotografieren. Vom benachbarten Café Goya weht Bluesrock herüber.
Kusturica ließ eine serbisch-orthodoxe Kirche bauen
Ausgedacht hat sich Andrićgrad der Regisseur, Schauspieler und Musiker Emir Kusturica („Underground“, „Schwarze Katze, weißer Kater“). Ihm gehören 51 Prozent der als Touristenattraktion konzipierten Anlage, der Republika Sprska 49 Prozent. Ein realsozialistisch-kitschig anmutendes Mosaik über dem Kinoeingang zeigt denn auch den Regisseur und Milorad Dodik, den Präsident der Teilrepublik, beim gemeinsamen Tauziehen. Die beiden bauen sich mit der Stadt auch ein eigenes Denkmal. Vordergründig geht es Kusturica aber um den 1975 verstorbenen Ivo Andrić, den er sehr verehrt. Schon lange plant der Regisseur „Die Brücke über die Drina“ zu verfilmen. Die Kulissen dafür hat er nun, denn Andrićgrad ist eine neue Stadt aus alten Steinen, die die Baustile der byzantinischen, austro-ungarischen und osmanischen Zeit zitiert. „Die Stadt soll wie eine architektonische Zeitmaschine funktionieren“, sagt Žan Marjanović, der Manager von Andrićgrad. Zügig führt er über das Areal und erklärt das Projekt von „Professor Kusturica“, der an diesem Tag in Russland weilt.
Der Regisseur habe die Stadt selbst entworfen. „Junge Architekten haben sie dann für ihn gezeichnet. So lief das schon mit Drvengrad“, sagt Marjanović. Drvengrad, auch Küstendorf genannt, liegt im serbischen Mokra Gora und diente erst als Drehort für einen Kusturica-Film. Jetzt ist das aus Holzhäusern bestehende Ethno-Dorf ein Touristenort, der traditionelle serbische Kultur repräsentieren soll. Die Hauptstraße ist nach Ivo Andrić benannt.
Auch diesmal geht es dem 1954 in Sarajevo geborenen Emir Kusturica neben dem Geschäft darum, national-konservative Werte zu feiern. Zwar betont er immer wieder, dass Andrićgrad ein multikultureller Ort sei, „eine Stadt der Kreativität, der Kunst und der Versöhnung“. Doch dafür lädt er sie überproportional mit serbischer Symbolik auf. So ließ er auf der Spitze der Landzunge weithin sichtbar als „Krone der Stadt“ eine serbisch-orthodoxe Kirche errichten, die dem kosovarischen Heiligen Zar Lazarus gewidmet ist. Mit Andrić hat das wenig zu tun, umso mehr mit Kusturicas eigener Agenda: Der Regisseur ist genau wie die serbisch-orthodoxe Kirche, von der er sich 2005 auf den Namen Nemanja taufen ließ, ein erbitterter Gegner der Unabhängigkeit des Kosovo. Vielsagend ist zudem das Datum des Baubeginns und der für 2014 geplanten Einweihungsfeier mit Emir Kusturicas Opernadaption der „Brücke über die Drina“. Beide fallen auf einen wichtigen serbischen Gedenktag, den Vidovdan oder St. Veitstag am 28. Juni. Sowohl die Schlacht auf dem Amselfeld als auch Gavrilo Princips Mord an Franz Ferdinand fanden am Vidovdan statt. Ivo Andrić kannte Princip und war ebenfalls Mitglied in der Organisation Mlada Bosna (Junges Bosnien), die sich für eine revolutionäre Befreiung Bosniens von der österreich-ungarischen Herrschaft und den Zusammenschluss mit Serbien und Montenegro einsetzte. Nach dem Attentat war Andrić eine zeitlang inhaftiert. Die Hauptstraße von Andrićgrad heißt Mlada Bosna, und sie führt direkt auf sein Denkmal zu.
Ein Bautrupp versuchte eine alte Habsburger-Festung zu schleifen
Ivo Andrić, der auch lange als Diplomat gearbeitet hat, nun als rein serbischen Künstler zu vereinnahmen, ist nicht nur wegen seiner katholisch-kroatischen Herkunft zweifelhaft. „Er war ein dezidierter Jugoslawist“, sagt Miranda Jakiša, Slawistik-Professorin an der Berliner Humboldt-Universität. Man dürfe ihn nicht von heutiger Warte aus lesen.
Die serbische Verehrung für Ivo Andrić führt auf muslimischer Seite zu dessen Ablehnung. So wurde seine Büste an der Brücke 1991 von einem Višegrader Muslim abgerissen und in die Drina geworfen. Auch Bilal Memišević sieht den „herausragenden Schriftsteller“ recht kritisch: „Seit seiner Botschaftertätigkeit schrieb er unter dem Diktat der Belgrader Akademie der Künste.“ So erklärt sich der islamische Gemeindevorsitzende, dass in der „Brücke über der Drina“ alle Muslime und Bosniaken „lächerlich oder bemitleidenswert“ dargestellt seien. Eine überzogene Lesart, die aber Memiševićs Meinung zu Andrićgrad erklärt: „Ideologisch lehne ich das Projekt ab“, sagt er. „Ökonomisch kann ich nichts dagegen einwenden.“ Die Investition sei zu begrüßen, auf der Baustelle hätten auch Muslime Arbeit gefunden.
Insgesamt sind zwischen 250 und 300 Menschen am Bau von Andrićgrad beteiligt. Derzeit stellen sie ein Hotel mit 57 Zimmern und ein Theater mit 300 Plätzen fertig. Die alten Steine, die der Stadt ihr historisches Aussehen geben, stapeln sich auf Paletten neben der Kirche. Žan Marjanović erklärt, dass sie größtenteils aus dem Süden des Landes stammen, wo man verlassene Häuser und alte Ställe aufkaufe, demontiere und hertransportiere.
Ganz so unkompliziert läuft es allerdings nicht immer: Als im vergangenen Sommer ein Bautrupp in Trebinje begann, die Reste einer Habsburger-Festung abzutragen, blockierten aufgebrachte Einwohner die Straße und verhinderten den Abtransport. Kusturica redete sich später auf Missverständnisse heraus. Derzeit dreht er in der Gegend mit Monica Bellucci einen neuen Film. Natürlich hat er der italienischen Schauspielerin auch schon Andrićgrad gezeigt, das ansonsten vor allem von Višegradern und Touristen aus den ex-jugoslawischen Staaten besucht wird.
Noch immer sind nicht alle Verbrecher von damals verurteilt
Niemals betreten würde hingegen Bakira Hasečić Kusturicas Stadt. Die 60-Jährige hat früher im Rathaus von Višegrad gearbeitet und nahe der Brücke gewohnt. Sie wurde bei den serbischen Pogromen mehrfach vergewaltigt, ihre Schwester getötet. „Ich will, dass die Menschen erfahren, was hier vor 20 Jahren passiert ist“, sagt die Präsidentin der Hilfsorganisation „Žene žrtve rata“ (Frauen als Kriegsopfer) beim Gespräch in einem Café am Drinaufer. Zum Beispiel, dass genau da, wo jetzt Andrićgrad steht, hunderte Muslime zusammengetrieben und dann in Bussen abtransportiert wurden. Viele kehrten nie zurück.
Spricht man Žan Marjanović, den Manager, auf diese Zeit an, wird er unwirsch. „Das sind alles Lügen. Es gab hier kein Blutvergießen wie in Bihak, Mostar oder Sarajevo“, behauptet der 37-Jährige, der aus Travnik stammt. „Dann sähen doch die Häuser hier ganz anders aus.“ Er sollte einmal die Pionirska Straße besuchen. Etwas verdeckt steht hier eine Ruine aus orangen Ziegelsteinen, die von einer unfassbaren Gräueltat zeugt. Am 14. Juni 1992 sperrten bewaffnete Serben muslimische Frauen, Kinder und ältere Männer in das Haus, setzten es in Brand und schossen auf jeden, der versuchte, zu entkommen. 59 Menschen starben. Einige Tage später wiederholten sie die mörderische Tat im Ortsteil Bikavac, dabei starben mindestens 60 Menschen. Die Cousins Milan und Sredoje Lukić wurden dafür – sowie für weitere Verbrechen – 2009 vom Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zu langen Haftstrafen verurteilt.
Bakira Hasečić, die inzwischen in Sarajevo wohnt, kommt häufig nach Višegrad. Sie will, dass endlich alle Täter vor Gericht gestellt werden und dass der Opfer gedacht wird. Sie selbst wartet darauf, dass ihr einstiger Nachbar, der Polizist Vjelko Planinčić, verhaftet wird. Er kam 1992 mit einem serbischen Trupp in ihr Haus. "Wir freuten uns noch, weil wir dachten, er hilft uns. Aber er war schlimmer als alle anderen," erinnert sie sich. Hasečić hat in Višegrad immer wieder Fotos von mutmaßlichen Kriegsverbrechern gemacht und dem Tribunal in Den Haag Informationen über ihren Aufenthaltsort gegeben. Derzeit arbeitet sie mit ihrer Organisation daran, in der Pionirska-Straße einen Gedenkort zu schaffen. Und auch auf der Mehmed-Paša-Sokolović-Brücke war sie schon aktiv: Bei den Feierlichkeiten zu deren Aufnahme ins Weltkulturerbe brachten sie und ihre Mitstreiterinnen eine Gedenktafel mit, die sie an der Brüstung befestigen wollten. Doch es kam zu einem Tumult, und jemand warf die Plakette ins Wasser. Inzwischen hat Hasečić schon wieder eine neue Idee: „Wir drucken eine Broschüre mit allen Informationen und verteilen sie auf der Brücke“, sagt sie und zieht an ihrer Drina-Zigarette.
Abends dann ist die Brücke voller junger Serben. Sie trinken Dosenbier, quatschen und lachen. Eine Gitarre wird herumgereicht. Vielleicht kursiert eines Tages eine der Broschüren von Hasečić – und die Višegrader Jugend beginnt, ein paar Fragen an ihre Eltern zu stellen.
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