„in vain“ im Radialsystem: Wenn das Hören zum Abenteuer wird
Der Musik-Entgrenzungskünstler Georg Friedrich Haas genießt Kultstatus. Für sein Werk "in vain" gehen im Radialsystem erstmal die Lichter aus.
Dirigenten haben zu viel Macht? Wer sie brechen will, braucht eigentlich nur das Licht auszuschalten. Zwei Mal ist es stockfinster im großen Saal des Radialsystems, die Posaunen reiben sich in Mikrointervallen aneinander, ein Blech donnert, und da, sind das die Saxophone? Verrückt, wie man seinen Ohren nicht mehr traut, wenn das Auge nichts mehr sieht. Woher bitte rührt dieser Tinnitus-Ton?
Oder später, nach den Tremolo-Glissandi bei der zweiten Dunkel-Etappe: Wie setzen sich diese scharfkantigen Klangblöcke zusammen, die sich einem nähern wie der Wald in Shakespeares „Macbeth“, während plötzlich Lichtblitze durch die Finsternis zucken? Ist das Nachbild im eigenen Auge eine Phantasmagorie oder sind es die realen Schemen des Kammerorchesters? Und tasten die 24 Musiker – das um einige Gäste erweiterte Kammerensemble Neue Musik (KNM) – jetzt selber irritiert auf ihren Instrumenten herum oder freuen sie sich, dass der Dirigent Stephan Winkler am Pult mit seiner Riesenpartitur mal zum Nichtstun verdammt ist?
Verflüssigungen, Verflüchtigungen und sanfte Dissonanzen
„in vain“ heißt das gut einstündige Werk aus dem Jahr 2000 von Georg Friedrich Haas, der in Berlin zuletzt mit der Erstaufführung der Jon-Fosse-Vertonung „Morgen und Abend“ an der Deutschen Oper von sich reden machte. Der Musik-Entgrenzungskünstler Haas genießt so etwas wie Kultstatus hier, der Saal ist bis auf den letzten Platz besetzt. „in vain“ wird dann auch tatsächlich weniger zum klassischen Konzerterlebnis als zum Sinnesabenteuer, das mit heiter gekräuselten Klangwellen beginnt und einem dreifach wiederholten Accelerando endet. Alle spielen Tonleitern abwärts, die Streicher, die Bläser, das Akkordeon, die Stabspiele, immer schneller – und die dritte Kaskade bricht mittendrin ab.
Verflüssigungen, Verflüchtigungen, es sind meist sanfte Dissonanzen, feines Wegdriften, kein schrilles Klingeln im Ohr. Auf der Stelle möchte man mehr Vierteltonkompositionen hören. Nach der ersten Dunkeletappe folgen Fragmente, von Pausen gerahmte Miniaturen, seien es im Kriechstrom vereinte Liegetöne, an Orgelregister gemahnende Klangfarbflächen, feine Pointillismen, brutale Sforzati oder minimal verfremdete saubere Terzen – Schönheiten im Mikro-Zerrspiegel.
Der Probenraum des Kammerorchesters ist in Gefahr
Wie nebenbei erkundet Georg Friedrich Haas auch die Landkarte des musikalischen Unbewussten. Ständig vermeint man, etwas wiederzuerkennen, vom Alphornruf über das Martinshornsignal (oder kommt es real von draußen, von der Holzmarktstraße?) bis zu „Tristan“-Assonanzen. Und nichts lässt sich dingfest machen. Zu Recht wird „in vain“ gerne mit den Verwirr-Treppenbildern von Maurits C. Escher verglichen.
Apropos Verwirrung: Das Kammerensemble droht seinen Probenraum im Podewil zu verlieren, die Basis des KNM seit 20 Jahren. Ausgerechnet die landeseigene Kulturprojekte GmbH hat Eigenbedarf angemeldet, wegen Büros. Verwirrend daran: Kultursenator Klaus Lederer kämpft gegen die Verdrängung der Kreativen aus der City. Inzwischen hat die Senatsverwaltung Unterstützung bei teureren Ersatzräumen zugesichert. Die gibt es vielleicht sogar: in der Fahrbereitschaft, dem Kreativhof der Haubrok Foundation in Lichtenberg. Die Zahlung der Differenz würde das Land allerdings in etwa so viel kosten wie andere Büroräume für die Kulturprojekte. Wer blickt da noch durch.