Steinmeier zur Zukunft der Demokratie: Wenn das Alte stirbt
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier lud beim "Forum Bellevue" zur Podiumsdiskussion. Wie kann Politik wieder attraktiver werden, lautete eine der Fragen.
Wie es um die Zukunft der Demokratie bestellt ist, die das Forum Bellevue unter der Gesprächsleitung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seit vergangenen September in regelmäßigen Podiumsdiskussionen erforscht, hat schon deshalb Science-Fiction-Charakter, weil über die Analyse der Gegenwart Uneinigkeit herrscht. Trifft es die Situation, dass „Wir, die Bürger(lichen)“, wie der Berliner Rechtsphilosoph Christoph Möllers im Juli 2017 in der Zeitschrift „Merkur“ behauptete, uns angewöhnt haben, an eine Welt zu glauben, in der Politik „weder etwas nehmen noch geben kann“?
Ließe sich diese lähmende Mischung aus Fatalismus und Selbstzufriedenheit über ein offenbar geräuschlos laufendes System kurieren, indem man, wie der Belgier David Van Reybrouck in seinem Buch „Gegen Wahlen“ vorschlägt, neue Formen der Bürgerbeteiligung in durch Los bestimmten Fachgremien erprobt? Oder sehen wir am Erstarken der europafeindlichen Ränder, die Italien gerade durch die rechte Lega und die linke Fünf-Sterne-Bewegung in die Zange nimmt, dass wir in einem „Interregnum“ leben, dessen krisenhafte Dimension wir unterschätzen? Die Politikwissenschaftlerin Donatella della Porta lieh sich den Begriff von dem Marxisten Antonio Gramsci. Mit Blick auf den historischen Moment, in dem „das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann“, wie er in den „Kerkerheften“ schrieb, muss man sich die Assoziation einer harmlosen Zwischenzeit allerdings verbieten.
Kaum noch Politikernachwuchs auf kommunaler Ebene
Das Zusammentreffen von Weltwirtschaftskrise und Börsencrash im Oktober 1929 mit der Hochzeit des italienischen Faschismus erschien ihm als Autoritätsverlust der herkömmlichen Politik: „Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, d. h. nicht mehr ,führend‘, sondern einzig ,herrschend‘ ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, dass die großen Massen sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten.“
Man mag das in den selbsterklärt „illiberalen Demokratien“ erkennen, die gerade in Polen und Ungarn entstehen – für Steinmeier nicht nur das Schreckgespenst einer Demokratieauffassung, mit der er aufgewachsen ist, sondern auch ein Widerspruch in sich. Ihn treibt um, was dazu beigetragen haben könnte, dass das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie Hand in Hand mit einem Misstrauen gegen das Parteiensystem geht. Ein Misstrauen, das sich aus einem Unverständnis für Politik als eine Kunst der Kompromisse speist – und so weit reicht, dass sich hierzulande auf kommunaler Ebene oft kaum noch Politikernachwuchs finden lässt.
Lauthals ablehnen, wovon man im Stillen zehrt
Das alles lässt sich mit dem Soziologen Pierre Bourdieu erklären, der die Interpretationen von Wirklichkeit für ebenso wirklich – also folgenreich wirksam – hielt wie die empirische Wirklichkeit selbst. Mit Möllers könnte man auf die „kognitive Dissonanz“ moderner Gesellschaften verweisen, die durchaus in der Lage sind, das lauthals abzulehnen, wovon sie im Stillen andererseits genüsslich zehren. Oder man freundet sich damit an, dass womöglich die Demokratie selbst die Preise verdorben hat, indem sie mit jeder neu erklommenen Stufe der Liberalisierung die Erwartungen an das Kommende in Höhen geschraubt hat. Stichworte von Stichworten, die sich in ihrer Unvollkommenkeit an diesem symbolträchtigen Tag immerhin zu einem kleinen europäischen Panorama ergänzten: Genau 69 Jahre zuvor, am 23. Mai 1949, war das Grundgesetz unterzeichnet worden.
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