Rede von Wolfgang Thierse: Wirkliche Politik ist grau und hässlich - na und?
Warum politische Erlösungsfantasien gefährlich sind und welche elf Punkte die neue Regierung angehen muss. Auszug aus einer Rede.
Weiter so geht nicht – das ist in diesen Monaten und Wochen eine ständig wiederholte Formel, geäußert und nachgeplappert von Politikern, Journalisten, Bürgern. Sie drückt eine Stimmungslage aus, die – medial verstärkt – zwischen der Forderung nach Erneuerung und einer tiefergehenden Sehnsucht nach dem ganz Neuen, der überwölbenden Idee, nach der faszinierenden Vision, nach einer großen Erzählung schwankt. Ich muss gestehen, dass mich diese Stimmung zunehmend ärgert. Dabei bestreite ich nicht den akuten Veränderungs-, also Politikbedarf, schon gar nicht als Sozialdemokrat. Ich will die benannte Stimmung ernst zu nehmen versuchen: Woher kommt sie, was bedeutet sie?
Demokratisch gebrauchte Menschen-Formationen
Zunächst ist diese Stimmung ein wenig erstaunlich angesichts der Umfragen und der Realitäten. Wir befinden uns eigentlich nicht in einem sozialen und ökonomischen Katastrophengebiet. Das Gegenteil belegen die volkswirtschaftlichen Daten: Wachstum, hohe Exportquote, steigende Gewinne und Einkommen (allerdings höchst ungleich verteilt). Eine große Mehrheit sagt selbst, ihnen gehe es gut bis sehr gut. Aber – und das ist der Zwiespalt – eine fast genauso große Mehrheit teilt die Befürchtung mit, dass dies nicht so bleiben werde. Positive Gegenwartsbeurteilung und Zukunftsunsicherheit korrespondieren auf eigentümliche Weise. Erklärt dieser Zwiespalt den Wunsch nach einem ganz Anderen und die Dauerkritik an der Politik und ihrem Personal?
Von den Parteien – im AfD-Jargon: den Altparteien – mag ja durchaus der Geruch des Ältlichen ausgehen. Sie sind halt schon demokratisch gebrauchte Menschen-Formationen. Was soll aber bei den Parteien oder an ihrer Stelle das Neue, das ganz Andere sein? Die Antworten auf diese Frage sind eigentümlich diffus. Robert Birnbaum hat neulich im Tagesspiegel geschrieben: „Fragt man bei Anhängern großer Würfe nach, was das konkret wäre, kommt meist nur Geschwurbel!“ Er hat wohl recht mit seiner Beobachtung.
Das Bedürfnis nach Neuem offenbart Nostalgie
Nun will ich die Parteien nicht generell freisprechen (auch meine eigene nicht). Aber könnte es sein, dass sich in dem Bedürfnis nach dem ganz Großen, dem überwältigend Neuen, ein bisschen Nostalgie verrät, die sehnsüchtige Erinnerung an große Zeiten (und große Gestalten), die so erhebend anders waren als die gegenwärtigen Niederungen? Bei Sozialdemokraten ist das die Erinnerung an das goldene sozialdemokratische Jahrzehnt der 70er. Bei mir und anderen Ossis ist es die Erinnerung an das Wunder 1989/90, an die Zeiten des Neuanfangs. Andererseits zeigt sich hier die populistische Gefährdung, sie zeigt sich gewissermaßen von ihrer freundlicheren Seite.
Ein gutes Vierteljahrhundert ist die friedliche Revolution her, die Überwindung des Ost-West-Systemkonflikts, das Scheitern einer ehemals verheißungsvollen Utopie (des Kommunismus), die Vereinigung Deutschlands und die Überwindung der Spaltung Europas. Welche Euphorie damals, welche Hoffnungen auf ein Zeitalter des Friedens! Der endgültige Siegeszug der Demokratie wurde gefeiert, das Ende der Geschichte wurde verkündet. Welch Kontrast zur Gegenwart! Ernüchterung ist eingetreten in Sachen deutsche Einheit: Es dauert alles länger, ist zäher und mühseliger und ist auch nicht mehr das wichtigste Thema.
Das Lob der Langsamkeit in der Demokratie
Wir haben in Deutschland und Europa in den vergangenen Jahren erlebt, wie sich durch die Flüchtlingsbewegung die politische Tagesordnung und die gesellschaftliche Stimmung heftig verändert haben. Aber nicht nur durch die Flüchtlingsbewegung, denn diese ist ja nur Symptom und Teil eines umfassenderen Prozesses, den wir mit dem Schlagwort „Globalisierung“ bezeichnen.
Globalisierung, das meint, vereinfacht gesagt, die Entgrenzung und Beschleunigung der ökonomischen Entwicklung, der internationalen Arbeitsteilung, des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts. Mit und seit der Finanzmarktkrise erleben wir die Rückseite der Globalisierung, vor allem eine Verschärfung sozialer Gegensätze, der Reichtums-Armuts-Unterschiede – auch in Deutschland! Viele erleben die Globalisierung als Gefährdung, ja als Verlust des Primats demokratischer Politik gegenüber den Märkten. Ein Gefühl des Kontrollverlusts über das eigene Schicksal breitet sich aus, Abstiegsängste und Zukunftsunsicherheit nehmen gerade auch in den sogenannten sozialen Mittelschichten zu.
Ein Gefühl, das verstärkt wird durch den rasanten Prozess der Digitalisierung. Die Zukunft der Arbeit, also der Arbeitsbiografien, ist fragil. Auch die schnellen wissenschaftlichen, biomedizinischen und gentechnischen Fortschritte tragen zur Verunsicherung bei.
Je komplexer die Probleme, desto größer das Bedürfnis nach einfachen Antworten
Der Blick in die Welt, in die internationale Politik zeigt: Wir erleben die Wiederkehr alter Geister; des Nationalismus, des Chauvinismus, des Rassismus, der autoritären Politik. Was für eine Welt, die von Putin, Erdogan, Xi Jinping beherrscht wird und nun von Donald Trump.
Die liberale, rechtsstaatliche und sozialstaatliche Demokratie wird immer mehr zur Ausnahme! Sie erweist sich als zerbrechliches politisches System. Aber: Diese Demokratie ist die politische Lebensform unserer Freiheit! Sie gilt es zu verteidigen, gerade im Alltag von Demokratie. Gerade auch in dem, was man Krise der Parteiendemokratie, Vertrauenskrise der Volksparteien, der demokratischen Institutionen nennt. Gerade auch gegen das, was viele zu Recht als Vergröberung der kommunikativen Sitten erleben. Die Lügen halten Hof als „alternative Fakten“. Die sozialen Medien werden zu Echoräumen der Entladung von Hass.
Wird sich angesichts all dessen unsere Demokratie bewähren und behaupten oder sich als Schönwetterdemokratie erweisen?
Wir kennen aus unserer deutschen Geschichte diesen angstgetriebenen Mechanismus: Je komplexer, bedrohlicher die Problemfülle erscheint, umso stärker das Bedürfnis nach den einfachen, radikalen Antworten, umso stärker die Sehnsucht nach den schnellen Lösungen, ja nach der Erlösung, nach der starken Hand. Das ist die Stunde der Populisten, der großen und kleinen Vereinfacher und Verfeinder und Schuldzuweiser. Mitten in unseren Demokratien breiten sie sich aus, haben bei Wahlen Erfolg. Wir haben sie erlebt und erleben sie in unserer Nachbarschaft: in Frankreich und Holland, in Polen und Ungarn, in Österreich und Italien und eben auch in Deutschland mit der AfD.
Es geht um die Beteiligung der Bürger
Ja, es gibt in der gegenwärtigen Welt und gewiss auch in Deutschland vielfältige Anlässe und Gründe für Zukunfts-Besorgnisse und Zukunfts-Ängste. Ja, es gibt Anlässe und Gründe für den heftigenWunsch nach der großen Veränderung – und für den genauso heftigen Wunsch nach Linderung der Veränderungsschmerzen! Aber weder der Ruf nach einer „bürgerlich-konservativen Wende in Deutschland“ à la Alexander Dobrindt ist die angemessene Antwort noch die Rückbesinnung auf die Nation, die Rückgewinnung von Grenzen oder „Germany first“ à la AfD.
Die angemessene Antwort ist aber eben auch nicht der zwar verständliche und doch auch ein wenig nostalgische Ruf nach dem ganz Neuen, nach der großen Erzählung, der verheißungsvollen Utopie, der alles überwölbenden Idee – wie sie von Bürgern, Journalisten, Professoren, Politikern gewünscht, erfleht, bequatscht werden. Es handelt sich dabei durchaus um eine der Spielarten der Geringschätzung, ja der Verachtung der alltäglichen, prosaischen Demokratie. Ich betone dagegen absichtsvoll pathetisch: Die wirkliche demokratische Politik ist weder Unterhaltung noch Erlösung. Die wirkliche Politik ist grau, hässlich, schweißtreibend, enttäuschungsbehaftet und müht sich von Kompromiss zu Kompromiss, sie verlangt geradezu revolutionäre Geduld! Ich lobe die Langsamkeit von Demokratie, auch wenn sie mich und uns Nerven kostet. Nur diese Langsamkeit schafft die Möglichkeit, dass sich an ihren Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen möglichst viele Bürger beteiligen können, wenn sie es denn wollen.
Diese elf Schlüsselthemen sollten das Handeln bestimmen
Was ich mir für dieses Jahr wünsche, ist nicht die große Vision, sondern schlicht: ein Jahr mit einer guten, fleißigen Regierung und einem munteren Bundestag, die beide ihre Tagesaufgaben erledigen und zugleich über den Tag hinaus, über die Vier-Jahres-Periode hinaus denken und handeln!
Und das sind die Schlüsselthemen, um die das öffentliche Nachdenken und Streiten, das Entscheiden und Handeln kreisen sollte.
1. Die zukünftige Gestalt der europäischen Einheit, denn diese ist hochgradig gefährdet durch den Brexit und seine Folgen, den osteuropäischen Eigensinn, die falsche deutsche Dominanz und Uneinigkeiten.
2. Regeln der Fairness und des gerechten Ausgleichs für den globalen Handel, für das Verhältnis Nord–Süd und vor allem Regeln für den entfesselten Finanzkapitalismus.
3. Eine wirklich konsequente Nachhaltigkeitspolitik, also kollektive Maßnahmen zur Bewältigung des Klimawandels und zur Verhinderung ökologischer Katastrophen.
4. Die Gestaltung der Zukunft der Arbeit, von Vollbeschäftigung in der digitalen Ökonomie, der Zukunft des Sozialstaats und der sozialen Sicherheit in der Digitalisierung.
5. Investition in Bildung, Forschung und Infrastruktur zur Modernisierung Deutschlands und zur Verteidigung seiner globalen Wettbewerbsfähigkeit.
6. Rente, Miete, Gesundheit, Pflege als Hauptfelder konkreter Politik zur Verbesserung der Lage von Mehrheiten.
7. Die soziale, kulturelle und ethische Bewältigung des technologischen Wandels und des wissenschaftlichen Fortschritts.
8. Ausreichende Finanzierung der öffentlichen Güter (also besonders Bildung, Gesundheit, Kultur, Sicherheit), um deren faire und gerechte Zugänglichkeit für alle zu ermöglichen.
9. Arbeit für mehr Gerechtigkeit in einem Land, in dem 83 Prozent des Volkseinkommens in die obere soziale Hälfte gehen und 17 Prozent in die untere Hälfte. Es geht um die Zukunft des sozialen Friedens in Deutschland.
10. Förderung der Kräfte und Strukturen von Solidarität in einer individualisierten und pluralistisch-widersprüchlichen Gesellschaft, die Solidarität nicht mehr auf selbstverständliche Weise erzeugt, Unterstützung also des ehrenamtlichen Engagements.
11. Und nicht zu vergessen: Deutsche Beiträge zur Befriedung einer unfriedlichen, in blutige Konflikte verstrickten Welt.
Genug Aufgaben? Genug Aufgaben! Sind sie zu kleinkariert, zu wenig utopisch? Sie ernst zu nehmen, sie anzunehmen, wäre der Wechsel der großen Scheine des Utopischen in das Kleingeld realistischer Politik weit über den Tag hinaus.
Der Autor ist SPD-Politiker und war Präsident des Deutschen Bundestags. Dieser Text ist die gekürzte Fassung seiner Rede beim Empfang der Bürgerstiftung Berlin und des Tagesspiegels am 25. Januar 2018.
Wolfgang Thierse
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