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Kirill Petrenko bei seinem Antrittskonzert am 23. August in der Philharmonie
© Berliner Philharmoniker/Stephan Rabold

Das Antrittskonzert von Kirill Petrenko: Wem der große Wurf gelungen

Verstörend, tiefschürfend, fragil: Kirill Petrenkos Antrittskonzert bei den Berliner Philharmonikern mit Beethovens Neunter.

Am Ende trägt dieser Abend doch alle Insignien eines Triumphs. Das stehende Publikum in der Philharmonie fordert Kirill Petrenko klatschend noch einmal zurück auf das leere Podium, der neue Chefdirigent der Berliner Philharmoniker legt eine Hand aufs Herz und verbeugt sich. Sein Orchester, der Rundfunkchor Berlin und das Solistenquartett befinden sich zu diesem Zeitpunkt bereits hinter der Bühne, vielfach bedankt von Petrenko, der mit Beethovens Neunter nun endlich seinen offiziellen Einstand gibt. Die Philharmoniker haben der anbrechenden Ära das Motto „Eine neue Energie“ verpasst und allerlei neonfarbene Klebestreifen im Scharounbau anbringen lassen. Doch selbst ein greller Rahmen kann Petrenko, den nunmehr siebten Chefdirigenten in der Geschichte der philharmonischen Republik, nicht dazu verleiten, sich selbst untreu zu werden.
Leicht macht es der 47-jährige Russe sich und seinen Musikerinnen und Musikern nicht. Nie kommt er auf die Idee, alle Verästelungen einer Partitur wirklich ganz erfasst und zum Klingen gebracht zu haben. Das Probieren ist bei Petrenko nicht notwendiges Übel, um auftreten zu können, es ist der eigentliche Sinn des Musizierens. Es sagt viel über seinen Charakter aus, dass er sich nach seiner überraschenden Wahl zum Nachfolger von Simon Rattle gleich einen Zugang zur Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Unter den Linden besorgte. Dort lagert eine herausragende Sammlung von Beethoven-Handschriften, auch das Autograf der Neunten befindet sich darunter. Mitten durch die Partitur hindurch verlief einst der Eiserne Vorhang und teilte das Werk in zwei Hälften, die sich diesseits und jenseits der Berliner Mauer befanden.

Eine Weite des Empfindens

Dass sich Petrenko für sein Antrittskonzert ausgerechnet die symbolisch schwer bepackte Neunte ausgesucht hat, die beinahe unentrinnbar auf Einheitsfeiern und Silvesterkonzerten erklingt, erklärt er selbst mit entwaffnendem Lächeln: „Sie enthält alles, was uns Menschen auszeichnet, im Positiven wie im Negativen.“ Damit umreißt der neue Chef auch den Kern seines musikalischen Denkens: die Suche nach tiefen Einsichten, nach einer Weite des Empfindens in der Musik. Erst dann kann sie auch etwas bedeuten. Petrenko ist kein Dogmatiker, seine außergewöhnliche, nimmermüde Arbeitsethik ist für ihn Schlüssel zu Erkenntnissen. Durch 29 Konzerte hat er die Berliner Philharmoniker bislang geleitet, die Erwartungen an ihn sind dabei mit jedem Auftritt weiter gestiegen. Selbst die nicht gerade zu Schwärmereien neigenden Musikerinnen und Musiker zeigten sich nach Auskunft von Orchestervorstand Andreas Bader zuletzt „gelassen euphorisch“.
Petrenko aber beginnt nicht mit der Neunten, er führt hin zu ihr mit Alban Bergs „Lulu-Suite“. Dieser 1934 uraufgeführte Extrakt der unvollendeten Oper vermag zu schillern wie die umschwärmte und zugleich gefürchtete Titelfigur. So wie Lulu die Ängste und Begehrlichkeiten derer reflektiert, die sie ansehen, kann Bergs Komposition ihre Gestalt verändern, abhängig davon, was der Dirigent in ihr erkennen will. Hebt er ab auf die sinnlich betörende Klangpracht oder darauf, dass sich unter ihr ein strenges Zwölftonkonstrukt verbirgt? Petrenko erreicht hier eine Fülle des Ausdrucks, die diese Gegensätze vergessen macht. Seine Klarheit öffnet Hörgänge, die hinabführen in die Tiefe, ohne dabei die halbseidenen Aspekte der Wedekind’schen Skandalstücke auch nur eines Blickes zu würdigen. Frivolität liegt Petrenko fern, nicht wegen moralischer Bedenken, sondern weil sie den Blick auf das musikalische Drama verstellt, das um eine Auslöschung kreist.

Emporwinden aus der Asche

Der letzte Klang, mit dem die „Lulu-Suite“ erstirbt, ist der erste, mit dem Beethovens Neunte einsetzt, sich emporzuwinden versucht aus der Asche. Mit seinem aufwühlenden Berg hat der Philharmoniker-Chef das Publikum sensibilisiert, auch hungrig gemacht. Daran hat auch die wunderbare Sopranistin Marlis Petersen, eine Vertraute der Münchner Opernzeit und diese Saison Artist in Residence der Philharmoniker, im „Lied der Lulu“ ihren Anteil. Nun aber reißt Petrenko mit gewaltigen Dynamiksprüngen ein Menschheitsdrama auf, dessen Pole gar nicht stark genug aufgeladen sein können. Zuletzt hat Simon Rattle die Neunte hier 2015 mit dem Orchester aufgeführt, die Aufnahme ist Teil der Beethoven-Box des Philharmoniker-Labels geworden. Verglichen mit dem Furor von Petrenkos Antritt klingt sie beinahe selbstzufrieden klangrundlich, unter gelegentlichen Ballungen der Faust. Eine solche Geste jedoch wäre viel zu fest und könnte allein deswegen nie vermitteln, was Petrenko sucht. Seine Neunte ist erfüllt von einer äußerst fragilen Balance zwischen viel Licht und noch mehr Dunkelheit, zwischen den unüberhörbaren Klängen von Krieg, Trauer, Todesangst und dem mühsamen Versuch, ein ehrliches Trotzdem zu formulieren. Das Orchester ächzt, das Orchester tobt, die Schlagzahl ist hoch und dennoch leuchten überall Stimmen heraus aus dem Strudel, unfassbar Schönes, das sich nicht festhalten lässt. Einen Partner auf hörbar gleicher Wellenlänge hat Petrenko im hochpräsenten Rundfunkchor Berlin gefunden.

Freude an zugespitzer Rhetorik

In seiner Klarheit und dem oft auf Vibrato verzichtenden Zugriff erscheint Petrenko jenen Musikern nahe, die es eine Generation zuvor einfach nicht mehr ausgehalten haben, immer wieder einen pompös nichtssagenden Beethoven aufzuführen. Sollte der Geist Nikolaus Harnoncourts an diesem Abend über die Philharmonie geschwebt sein, er hätte seine helle Freude an derart zugespitzter Rhetorik, vielleicht aber auch etwas Sorge, wohin Petrenko und seine Philharmoniker das führen wird.
Fertig ist diese wie ein Pendel hypnotisch kreisende Beethoven-Lesart keinesfalls. Sie verstört auch und glättet nichts, durch sie erscheint jegliche Vereinnahmung der Neunten als vorschnell, wenn nicht gar fragwürdig. Petrenko macht bewegend deutlich, dass ihm repräsentatives Musizieren fernliegt und man sich auf Beethoven zunächst tiefschürfend eingelassen haben muss, bevor man Staat mit ihm machen will. Humanität gibt’s nicht im Abo. Dabei bewegt er sich freier als bisher auf dem Podium, das nun seine künstlerische Heimat sein wird. Dass Petrenko gar nicht so scheu ist, wie gerne er aus seiner demonstrativen Scheinwerferflucht abgeleitet, wissen die Musikerinnen und Musiker längst. Ob der neue Chef, der nie aufhört, an Interpretationen zu feilen, aber wirklich mal die Zügel locker lassen kann, muss er auch nach seinem Antritt noch beweisen.
Woanders wird man über diesen Abend wahrscheinlich lesen können: Petrenko hat auch keinen Beethoven-Generalschlüssel, und ein Furtwängler ist er gleich gar nicht. Das stimmt, und mitten im Applaus kann man in fragende Gesichter schauen, mehr als sonst üblich in der Philharmonie. Darin liegt die Stärke dieses Anfangs, bei dem es nicht um Schönheitschirurgie geht, sondern um unbedingte Hingabe an das Unerschöpfliche. Die Zeit der leichten Triumphe ist vorüber.

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