Neuer Chefdirigent der Berliner Philharmoniker: Petrenko verpflichtet sich der Sache, nicht der Show
Mit seiner uneitlen Art könnte Kirill Petrenko eine künstlerische Ära prägen – und Vorbild sein in der Selfie-Gesellschaft. Ein Kommentar.
Eitelkeit ist der größte Feind des Klassikkünstlers. Weil sie ihn dazu verleitet, selbstbezogen zu werden, das Kunstwerk, das er interpretieren soll, durch seine eigene Persönlichkeit zu überwölben. Oder, schlimmer noch, sich für unersetzbar zu halten. Abend für Abend bejubelt zu werden, das berauscht, das verwöhnt – und begünstigt, das Unterscheidungsvermögen zwischen Aufführung und Realität zu verlieren. Fortgesetzte Liebesbeweise seitens des Publikums können zur Deformation des Charakters führen.
Gerade erst hat die klassische Musik zwei solcher Fälle erlebt: Da ist zum einen Placido Domingo, einer der bedeutendsten Sänger der Welt, dem die Herzen der Fans nur so zufliegen, der dadurch aber zu der Annahme kam, dass ihm hinter den Kulissen kein weibliches Wesen widerstehen könne. Übereinstimmend berichteten neun Frauen, dass Domingo sie gegen ihren Willen bedrängt habe. Der andere, anders geartete Fall ist Daniel Barenboim, der Chef der Berliner Staatsoper. Ihm warfen ehemalige Mitarbeiter einen Führungsstil vor, der von cholerischen Wutanfällen und herabwürdigenden Äußerungen geprägt sei.
Von all dem ist Kirill Petrenko, der neue Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, der am heutigen Freitag sein Amt antritt, denkbar weit entfernt. Der russische Maestro kennt nur einen Fokus: die hingebungsvolle Versenkung in die Partituren. Uneitel in seiner Erscheinung, liebt er nichts mehr, als mit Musikerinnen und Musikern an interpretatorischen Details zu feilen. Er nutzt die Probenzeit effektiv bis zur letzten Sekunde, zieht sich nach jedem Konzert zurück, um in Gedanken den Verlauf des gerade Verklungenen auf seine Stimmigkeit hin zu überprüfen. Mit seiner Art könnte Kirill Petrenko nicht nur eine künstlerische Ära prägen, sondern auch eine Vorbildfunktion in einer an sich selbst berauschten Selfie-Gesellschaft einnehmen.
Diese Ernsthaftigkeit! Dieser Witz!
Überall, wo er bisher Chefpositionen innehatte, ob in Meiningen, an der Komischen Oper Berlin oder am Nationaltheater München, schwärmen die Leute von seiner Ernsthaftigkeit – und seinem Humor. Unter Marketinggesichtspunkten ist Kirill Petrenko trotzdem eine Katastrophe: Seit zehn Jahren weigert er sich, Interviews zu geben, er bespielt die Kanäle der sozialen Medien nicht, lässt sich ungern fotografieren.
Gerade deshalb aber haben die Berliner Philharmoniker Kirill Petrenko gewählt. Weil er die reine Kunst verkörpert. Vermarkten kann sich das basisdemokratisch organisierte Spitzenorchester selber. Mit Petrenkos Vorgänger, Simon Rattle, einem begnadeten Kommunikator, haben sie den Sprung ins 21. Jahrhundert geschafft. In Sachen ästhetischer Offenheit wie auch beim Umgang mit jungen Leuten und weniger kulturaffinen Zielgruppen sind sie Vorbilder für die globale Klassikszene.
Darum können sie es sich leisten, mit ihrem neuen Chefdirigenten den Blick nach innen zu richten, in die Noten statt in die Kameras. Petrenko lebt es vor: ganz bei sich sein, als Bedingung dafür, anderen etwas geben zu können. Was aber nicht bedeutet, dass er sich im Elfenbeinturm verschanzt. Bei seinem Antrittskonzert am heutigen Freitag dirigiert Petrenko ein Stück Musikgeschichte: Beethovens „Neunte“. Und am Samstag gibt es die Sinfonie mit der zutiefst humanistischen „Ode an die Freude“ dann noch einmal vor dem Brandenburger Tor – gratis für alle. Das klingt gut.
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