"Avenidas" von Eugen Gomringer: Alleen nach nirgendwo
Wem ist nun geholfen? Eugen Gomringers Gedicht "Avenidas" wird von der Fassade der Alice Salomon Hochschule entfernt. Letzte Anmerkungen.
In diesen atmosphärisch aufgeheizten Tagen wird es Menschen geben, die zwischen Eugen Gomringer und Dieter Wedel eine direkte Verbindung sehen. Wo der eine, mögen sie denken, mit seinem „Avenidas“-Gedicht die Schuld der geistigen Brandstiftung trägt, da hat der andere verbrecherisch ausagiert, was an Sexismus in der Luft lag. Weil darüber jedes vernünftige Maß verloren geht, ist es doppelt schlimm, dass der Akademische Senat der Berliner Alice Salomon Hochschule ausgerechnet jetzt beschlossen hat, die acht auf Spanisch verfassten Zeilen des Vaters der Konkreten Poesie von der Südfassade des Gebäudes zu verbannen. Auf Deutsch lauten sie: „Alleen / Alleen und Blumen / Blumen/ Blumen und Frauen / Alleen / Alleen und Frauen / Alleen und Blumen und Frauen und/ ein Bewunderer“. Der Asta erkannte darin, hübsch mit Gender-Sternchen, nicht nur eine „klassisch patriarchale Kunsttradition, in der Frauen* ausschließlich die schönen Musen sind, die männliche Künstler zu kreativen Taten inspirieren, es erinnert zudem unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen* alltäglich ausgesetzt sind“.
Was als Lokalposse begann, ist ein Drama von nationaler Tragweite geworden, über dessen Ausgang niemand froh sein kann. Der Asta hat bewiesen, wie wenig er in seiner Gender-Empfindlichkeit auszuhalten bereit ist: Es hat eine Stärke demonstriert, die in Wahrheit eine Schwäche ist. Die Hochschulleitung hat gezeigt, wie wenig sie an Kontroverse auszuhalten bereit ist, zumal sie dem inzwischen 93-jährigen Gomringer, der noch noch nie ähnliche Vorhaltungen zu gewärtigen hatte, 2011 ihren Poetikpreis verliehen hat. Nun sollen andere Preisträger im Wechsel die Fassade schmücken.
Empfindlichkeiten sind Empfindlichkeiten. Man kann sie nur bedingt objektivieren
Zugleich ist unwahrscheinlich, dass der Preis jemals wieder auf die Beine kommt. Das Haus für Poesie, das ihn bisher ausrichtete, kündigte seine Kooperation auf; die gesamte Jury, soweit sie nicht der Hochschule angehört, trat zurück. Thomas Wohlfahrt, der Leiter des Hauses für Poesie, zeigte sich überdies entsetzt, dass man sich bei Eugen Gomringer weder entschuldigt, noch die Sexismus-Vorwürfe revidiert habe. Wem ist nun geholfen?
Empfindlichkeiten sind Empfindlichkeiten. Man kann sie nur bedingt objektivieren. Aber wo es um die Abwägung öffentlicher Güter wie der Kunstfreiheit geht, sind reine Gefühlsbekundungen fatal. Man muss sie, mehr noch als in privaten Beziehungen, gesellschaftlich aushandeln.
Der allgegenwärtige Sexismusverdacht ist in dieser Hinsicht so etwas wie der säkularisierte Nachfahre des Blasphemievorwurfs – nur dass man in der Attacke auf religiöse Überzeugungen mittlerweile erstaunlich weit gehen darf. In das zwischengeschlechtliche Miteinander schleicht sich dafür mehr und mehr ein illiberales ideologiekritisches Misstrauen ein. Das Gomringer-Gedicht auch noch als Musterbeispiel heteronormativer Tyrannei zu lesen, überspannt vollends den Bogen. Die Generalverdammung ersetzt den konkreten Vorwurf. Das trägt mehr zur Spaltung zwischen den Geschlechtern und sexuellen Identitäten bei als jede wirkliche Anzüglichkeit.
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