9. Berlin-Biennale: Was ist da draußen los?
Die Akademie der Künste am Pariser Platz ist die Hauptspielstätte der Berlin-Biennale, die dieses Jahr den Titel „The present in drag“ trägt. Ein Rundgang.
Worin besteht das kleine Glück? In einem Riesenlebkuchen, einer entlaufenen Katze, die zurückkehrt, einem knackigen Boy, der als Bodypaint eine Polizeiuniform trägt, einem Blumenstrauß, einer Spitzendecke. Das alles beschert nicht nur individuelle, sondern den Deutschen gleichsam kollektive Glücksmomente – wenn man Simon Fujiwara glaubt.
Der Londoner Künstler hat zusammen mit seinem Bruder Daniel, einem für die Wirtschaft tätigen Glücksforscher, vermeintlich wissenschaftlich analysiert, was den Deutschen dieses ganz bestimmte Gefühl beschert. In seinem „Happy Museum“ zeigt er die Objekte der Stimulanz: Spargel, Kinderschokolade, einen Gartenzwerg und dazu einen riesigen Haufen pulverisiertes Make-up jener Marke, die Angela Merkel trägt, damit ihre Gesichtshaut selbst im grellen Kameralicht noch natürlich wirkt.
Ach, wenn es nur so einfach wäre. Das „Happy Museum“ macht den Besuchern der Berlin-Biennale sichtlich Spaß. Lauter analoge Objekte aus der realen Alltagswelt liegen auf den Podesten und in den Vitrinen zum Greifen nah. Sogar das eine Schaufensterpuppe imitierende Modell mit dem Polizistenkäppi und der Fliegerbrille ist echt, seine durchtrainierten Bauchmuskeln heben und senken sich beim Atmen.
Wohnen, Kleidung, Essen - die Biennale spielt in vielen Spähren
Jenseits von Fujiwaras Sonderschau aber tobt eine andere Welt. Zwittergestalten, mit absurden Zahnspangen bewehrte Konterfeis, Plastikmannequins in irren Verrenkungen bevölkern das Foyer der Akademie der Künste. Rette sich wer kann in den hinteren Bereich, in die Cafeteria. Doch die ist ebenfalls in Künstlerhand. Tische und Bänke sind aus Paletten gebaut, als Deko dienen Plastikunterkörper, aus denen Farne ranken, als Getränk wurde eigens ein giftgrüner Detoxdrink kreiert, der Lebensgeister weckt.
Die Berlin-Biennale ergreift Besitz von allen Sphären, Wohnen, Kleidung, Essen. Die neunte Ausgabe der wichtigsten Berliner Ausstellung im zeitgenössischen Bereich bleibt keineswegs im virtuellen Raum, auch wenn die Wahl der vier New Yorker Macher des Online-Magazins DIS diese Vermutung nahegelegt hatte. Lauren Boyle, Solomon Chase, Marco Roso und David Toro haben der Stadt eine ausgesprochen lebhafte, streitbare und keineswegs unpolitische Biennale beschert, wie zunächst befürchtet.
Die Akademie der Künste am Pariser Platz als zentralen Ort zu wählen, mitten hineinzugehen an diesen Kreuzungspunkt von Kultur, Politik, Wirtschaft, überzeugt als Statement. Nie hat man Günter Behnischs unselige Architektur belebter, die absurden Gangways, Zwischengeschosse und Terrassen besser genutzt gesehen als mit den nun implantierten Installationen, Leuchtkästen, Filmen, Figurinen. Was draußen vor der Tür unsichtbar passiert, ist hier in Echtzeit zu erleben: ein Überlebenskampf, die Verhandlung knallharter Interessen.
Die Post-Internetkünstler driften nicht ins Virtuelle ab
Die hysterischen Protagonisten in den Filmen von Lizzie Fitch und Ryan Trecartin kreischen ihre Ängste heraus: Eifersucht, Liebesentzug, der Wahnsinn einer genmanipulierten Landwirtschaft. Der Besucher darf sich ihre Suadas an einer Theke vom Barhocker aus oder in einer zweigeschossigen Wohlfühllandschaft anschauen. Behaglicher macht das die Angelegenheit nicht. Irgendetwas läuft hier gründlich schief, einen Ausweg gibt es trotzdem nicht. Die Post-Internet-Künstler, für die das Duo Fitch/Trecartin und die vier Biennale-Macher als typische Vertreter gelten, driften keineswegs ins Virtuelle ab, sie zeigen, wo es wehtut.
Die von Boyle, Chase, Roso, Toro ausgewählten Künstler benennen einen Schmerz, Defizite, die auf dem ganzen Globus zu spüren sind und wahrhaftig nicht als Berliner Spezialität gelten können. Erstmals hat sich die Biennale damit thematisch von der Stadt abgekoppelt. Bislang waren die pittoresken Ausstellungsorte, die jüdische Mädchenschule, leer stehende Läden, Kirchen, Wohnungen neben den Kunst-Werken als „Mutterhaus“ die bevorzugten Settings.
Das Netz spuckt die wildesten Geschichten aus
Die Geschichte Berlins als Ort mal mehr dunkler, mal mehr lichter Vergangenheit, als Brutstätte Kreativer und Gentrifizierer ließ sich von dort aus wie von selbst in immer neuen Varianten erzählen. Das nächste Kapitel Berlin-Biennale scheint nun aber aufgeschlagen, kurz bevor sie beim nächsten Mal ihr Jubiläum feiern kann. Die jetzige neunte Ausgabe zeigt, dass die Großausstellung den Berlin-Bonus nicht mehr braucht, um etwas zu sagen zu haben.
Das aktuelle Kuratorenteam hätte allerdings auch kaum anders gekonnt. Bei seiner Recherche stellte es fest, dass freie Plätze so gut wie keine mehr existieren und wenn, dann waren sie vom Senat als Quartiere für Menschen aus Syrien und Afrika akquiriert. Zu den mitreißendsten Arbeiten in der Akademie der Künste gehört passenderweise Halil Altinderes wildes Video „Homeland“, das in seiner Heimatstadt Istanbul beginnt und Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Berlin begleitet. Die letzte Szene spielt auf dem Gelände vor dem Flughafen Tempelhof.
Der syrische Rapper Hajar, Leitfigur des Videos, gibt dem Betrachter als trotzige Botschaft mit: Ich habe noch eine Heimat, und irgendwann kehre ich zurück. Allzu platt wirken allerdings die davor platzierten figurativen Skulpturen von Anna Uddenberg: athletische Frauen, deren Unterkörper aus Rollkoffern bestehen und deren Köpfe mit Rucksäcken verwachsen. Die Hybride der schwedischen Bildhauerin kritisieren die Rastlosigkeit der Gesellschaft, den Optimierungswahn, die sexuelle Aufladung des weiblichen Körpers. Mit dem Thema Flucht, auch wenn es auf den ersten Blick so scheint, haben sie nicht allzu viel zu tun.
Hund frisst Löwe, Chamäleon frisst Maulwurf
„The present in drag“ lautet der Titel der Biennale, was ungefähr als „Die verkleidete Gegenwart“ übersetzt werden kann. Das passt zu Uddenbergs Gruselgestalten, zu Timur Si-Qins künstlicher Landschaft im Foyer, die mittels einer integrierten Leinwand eine sich selbst reflektierende Natur vorstellt, oder zu jenen sich gegenseitig verspeisenden Tieren auf dem Balkon zum Pariser Platz – Ziege frisst Seehund, Hund frisst Löwe, Chamäleon frisst Maulwurf usw.. Das Netz spuckt die wildesten Geschichten aus, am Computer lässt sich alles mit allem verpfropfen, kombinieren. Diese wuchernde Fantasie mag verängstigen, aber sie zeigt, was da draußen passiert.
Alexander Farenholtz von der Bundeskulturstiftung – sie ist mit 2,5 Millionen Euro Zuschuss der wichtigste Geldgeber der Biennale, zugleich ihr größter Anhänger – hat der neunten Ausgabe ein ambivalentes Kompliment gemacht: Sie deklariere nicht mehr, was richtig, was falsch sei, wie das Internet den Benutzer seinem eigenen Urteil überlässt. Auch der Biennale-Besucher wird entlassen. Wir dürfen uns mit der New Yorker Künstlergruppe M/L Artspace auf ihr Lotterbett werfen, wobei die beschriftete Bettwäsche eher traurige Wahrheiten über die moderne Boheme erzählt. Oder auf Christopher Kulendran Thomas’ Sofaecke setzen und von einer staatenlosen Zukunft träumen. Nur den richtigen Platz, die richtige Seite, die gibt es nicht mehr.
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