Buch von Paul-Henri Campell: Was haben Tattoos mit Religion zu tun?
In dem Prachtband „Tattoo & Religion“ untersucht der Schriftsteller Paul-Henri Campell die Verbindung von Tätowierungen und Spiritualität.
Bis vor wenigen Jahrzehnten waren Tattoos Erkennungsmerkmal antibürgerlicher Existenzen. In Form von Herzen, Rosen, Ankern, Schwertern oder Schmetterlingen wurde Rebellion auf der Haut sichtbar gemacht oder auch eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Die Körper-Markierung der Ganoven, Seeleute, entlassenen Legionäre, Ex-Häftlinge und Prostituierten wies auf Nächtliches, Anrüchiges, Grenzüberschreitendes hin. Schauspieler, Rockmusiker und Models gehörten zu den ersten, die sich die Signets der Outlaws aneigneten und sie Richtung Coolness umdefinierten. Plötzlich war es schick, sich eine Jugendstil-Blüte zwischen die Schulterblätter stechen zu lassen. Doch spätestens als die ehemalige First Lady mit ihrem Tribal-Tattoo für kurze Zeit in Schloss Bellevue einzog, war es vorbei mit der subversiven Aura des Tattoos. Es wurde zum Lifestyle-Accessoire. Oder ist auch dies nur eine bornierte Sicht auf die Dinge?
Tattoos, das offenbart nun das üppige Buch „Tattoo & Religion“ von Paul- Henri Campbell, funktionieren wie Rorschachtests: Sie sagen mehr über den Betrachter als über die Tätowierung und deren Träger aus. Warum aber die Koppelung von „Tattoo & Religion“? Campbell, Lyriker und katholischer Theologe, 1982 in den USA geboren und in Deutschland aufgewachsen, stellt genau dies ins Zentrum seines Interesses, worin durchaus eine Provokation liegt. Denn Judentum, Islam und Christentum stehen der Tätowierung auch heute noch mindestens ambivalent, wenn nicht strikt ablehnend gegenüber. Campbell untersucht diesen in sich widersprüchlichen Diskurs nicht weiter, er ist überzeugt, dass hinter „Pferdekopf, Schmetterling, Darth Vader im Profil (…) und Seeanemone ebenso spirituell reife Erfahrung liegen wie hinter einem eselsohrfleckigen Pilgerbuch von einem Jakobspilger.“ Für einen Theologen mag das eine exzentrische Ansicht sein, nicht aber für einen Lyriker. Das „Spiel zwischen dem Zeichen und seinen Zuschreibungen“ ist für ihn hier wie da das Entscheidende.
Aber heißt es nicht in 3. Mose 19, 28, man soll keine Schrift in die Haut „ätzen“? Das Tätowieren von Christen während der römischen Verfolgung galt als besonders demütigende Strafe, auch wenn sie von den Christen selbst, wie Campbell erläutert, zum Zeichen ihrer „spirituellen Unbeugsamkeit“ uminterpretiert wurde. Die koptischen Christen trugen ein Kreuz eintätowiert an der Innenseite des Handgelenks, ein Erkennungsmerkmal, das schließlich in die Pilgertätowierung Eingang fand. Noch heute lassen sich Jerusalem-Pilger in Razzouks Tätowierladen in der Altstadt das Jerusalem-Kreuz stechen – oder andere Motive aus der bis 1300 zurückreichenden Tradition. Campbell hat mit einem Nachfahren der Razzouks gesprochen, einem Familienunternehmen, das wie alle Tattoo-Studios über Instagram und Facebook global präsent ist. Natürlich sind Tattoos geradezu prädestiniert für die Selbstrepräsentation in den sozialen Netzwerken.
Ein Fundus, keine Fundgrube
Das erhellendste Gespräch in diesem Buch ist jenes mit einem Jesuitenpater, der selbst drei Tätowierungen trägt. Die jüngste besteht aus dem typologisch gestalteten Schriftzug „Vater unser im Himmel“ am Unterarm. Nein, es sei ihm nie um eine „Schmerzerfahrung im Sinne der Passionsnachfolge“ gegangen, sagt der Pater. „Aber ich will die Botschaft mit meinem gesamten Wesen interpretieren und durch mich wirken lassen.“ Das ist dieses Buch auch: Eine Stimmensammlung in munteren, kundigen Gesprächen mit Tätowierern, Wissenschaftlern, umrahmt von Essays, geschmückt mit farbintensiven Abbildungen und einem heiteren Layout, das dem eines gut gemachten Magazins ähnelt. Ziemlich viel Futter also, historisch, theologisch, motivgeschichtlich, pragmatisch – ein Fundus, keine Fundgrube. Wer immer etwas erfahren möchte über die kulturellen Facetten dieser Praxis, mit einer Nadel Tinte unter die Haut zu bringen, wird sich hier festlesen, wieder und wieder. Das hat auch damit zu tun, dass Paul- Henri Campbell nie mit enzyklopädischer Neutralität spricht, sondern durchaus anwesend ist und gar nicht so tut, als wahre er irgendeine journalistische Distanz zu seinen Gesprächspartnern.
Der da zum Reden auffordert – oft mit einem schlichten „Erzähl mal“ –, spricht als Experte für christliche Ikonographie, als Wissbegieriger und eindeutiger Liebhaber der Tätowierung, der sie nicht ohne Spott gegen ihre Feinde verteidigt: In einem Essay, der das Buch beschließt, schreibt er: „Gleichzeitig hält sich, besonders bei evangelischen Christen, hartnäckig ein seltsam bürgerliches Unbehagen: Dieselben Menschen, die in allen Dingen mit ihrer Verbindlichkeit prahlen, scheuen sich davor, ein Zeichen auf ewig zu setzen. Auffällig dabei sind ihre ethisch aufgeladenen Gegenargumente gegenüber dieser ästhetischen Frömmigkeitsbewegung: etwa, die Tätowierung sei ungesund. Man will diesen festen Burgen der Christenheit zurufen: War denn je eine religiöse Praxis gesund oder vernünftig? Legt sich denn der Fakir auf ein Federbett?“ Am Ende verfolgt Campbell doch eine Mission mit diesem Buch – die Versöhnung der christlichen Religion mit einer ihr adäquaten, aber hysterisch abgewehrten Ausdrucksform. Und so ist seine Frage „Müsste die Tätowierung nicht die erste und vornehmste Kunst des österlichen Menschen sein?“ eindeutig rhetorisch zu verstehen.
Paul-Henri Campbell: Tattoo & Religion. Die bunten Kathedralen des Selbst. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2019. 29,80 €
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