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Unter einer Flagge. AfD-Politiker demonstrieren im September 2018 gemeinsam mit Neonazis und dem ausländerfeindlichen Bündnis Pegida in Chemnitz.
©  Ralf Hirschberger/p-a/dpa

Antisemitismus von rechts: Warum die „Leitkultur“-Debatte vom eigentlichen Problem ablenkt

Der Lyriker Max Czollek seziert in seinem neuen Buch „Gegenwartsbewältigung“ aktuelle deutsche Kulturkämpfe.

Als der CDU-Bundestagsabgeordnete Philipp Amthor am 27. Januar 2020, 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, von einem Fernsehsender nach dem gegenwärtigen Antisemitismus in Deutschland gefragt wurde, sagte er: „Man darf nicht vergessen, dass Antisemitismus natürlich vor allem in muslimisch geprägten Kulturkreisen besonders stark vertreten ist. Und auch auf dem Hintergrund der Migration der letzten Jahre existieren natürlich viele Sorgen für die jüdische Bevölkerung. (…)

Da muss für uns klar sein, wenn man von Migranten zu Recht erwartet, dass man sich hier an unsere Kultur hält, dann gehört dazu auch, dass Antisemitismus bei uns keinen Platz hat.“

Antisemitismus, so muss man den Nachwuchspolitiker wohl verstehen, ist vor allem ein Problem, das von muslimischen Einwanderern nach Deutschland gebracht wird. Vier Monate zuvor hatte ein nichtmuslimischer deutscher Neonazi in Halle versucht, schwer bewaffnet die Synagoge zu stürmen. Als ihm das nicht gelang, erschoss er eine Passantin und den Gast eines Döner-Imbisses. Nur die Stabilität der Synagogentür verhinderte ein größeres Massaker.

Max Czollek seziert in seinem Langessay „Gegenwartsbewältigung“ genüsslich solche O-Töne zur deutschen Lage. Er weist darauf hin, dass Amthor das Wort Kultur gleich zwei Mal verwendet, „muslimisch geprägte Kulturkreise“ und „unsere Kultur“ einander gegenüberstellt.

Diese Dichotomie von „wir“ und „die“ erinnert an die hitzige Leitkulturdebatte, die im Jahr 2000 über die Integration von Zuwanderern geführt wurde, damals mit Friedrich Merz als einem der Hauptprotagonisten.

Diskurs hat sich verschoben

Der Kulturkampf geht weiter. Inzwischen hat sich der Diskurs verschoben, hin zur Behauptung – so Czollek –, dass es einer deutschen Leitkultur bedürfe, „um Juden und Jüdinnen vor den antisemitischen Muslim*innen zu beschützen“. Antisemitismus gibt es auch unter Muslimen, konstatiert der Autor, und erinnert an das Video aus dem Frühjahr 2018, das dokumentiert, wie ein Deutsch-Araber im Prenzlauer Berg mit seinem Gürtel auf einen jungen Mann einschlug, weil er eine Kippa trug.

Aber diese Form der Judenfeindlichkeit ist keineswegs der Hauptauslöser antisemitischer Gewalt in Deutschland. Czollek hat die Empirie auf seiner Seite. Eine Studie des Bundesinnenministeriums zur Hasskriminalität im Jahr 2018 listet 14 antisemitische Straftaten „von links“, 164 in der Kategorie „ausländische und religiöse Ideologien“ und 1603 „von rechts“ auf.

Der Politikwissenschaftler und Herausgeber der Zeitschrift „Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart“ ist mit seinem Buch „Desintegriert Euch!“ bekannt geworden, einer Mischung aus Streitschrift und Manifest.

Darin feierte er die Schönheit der Vielfalt und rief Minderheiten dazu auf, sich der Anpassung zu verweigern. Mit „Gegenwartsbewältigung“ setzt er die Demontage eines Nationalbegriffs fort, bei dem sich die Ränder in eine vermeintlich homogene gesellschaftliche Mitte einzufügen haben. Deutschland ist längst diverser, als es viele Konservative wahr haben wollen.

Fast jeder Schlag trifft

Schon im Titel mischt sich, typisch für Czollek, Wortspiel mit Polemik. Vergangenheit lässt sich, weder – wie eine Floskel zum deutsch-jüdischen Verhältnis suggeriert – „wieder gut machen“ noch „bewältigen“. Der Zivilisationsbruch der Shoa bleibt.

Auch die Gegenwart ist nicht zu bewältigen, als handle es sich um eine Knobelaufgabe. Aber sie lässt sich beschreiben, und das tut Czollek angriffslustig, gewitzt und mitunter brillant.

Hatte Czollek in „Desintegriert euch!“ das „Gedächtnistheater“, bei dem immer wieder dieselben alten Identitätsdramen aufgeführt werden, von einem Logenplatz aus kommentiert, steigt er nun in den Ring. Ein Wrestlingkampf, bei dem auch ein knapp bekleideter Adorno „im schwarzen Mankini“ dabei ist.

Das ist flapsig formuliert, aber fast jeder Schlag trifft, gemeinsam legen sie die Pappkameraden „Leitkultur“ und „Integrationsparadigma“ auf die Matte. Czollek beruft sich auf eine Radioansprache, in der Adorno der Frage nachging, warum sich die deutsche Öffentlichkeit nach dem Nationalsozialismus geradezu begeistert auf die Kultur stürzte.

Angesichts der Nichtbeschäftigung mit der eigenen Schuld und Verantwortung sah Adorno darin eine Form der Gegenwarts-Verdrängung, um „den Rückfall in die Barbarei zu vertuschen“.

Aufstieg des Rechtspopulismus

Diese Entlastungsstrategie wirkt, so Czollek, bis heute fort. Mit dem Aufstieg des Rechtspopulismus kehren Ideologien zurück, die vergangen und verwest zu sein schienen. Czollek fasst das aphoristisch zusammen: „Während Objekte mit zunehmender Entfernung kleiner werden, scheinen die Gegenstände der politischen Nostalgie zu wachsen, je weiter wir uns von ihnen entfernen.“

Czollek befürchtet, dass nicht nur die Deutschlandfahne wieder in ist, sondern auch „Uropas Ledermantel“. Und angesichts von Alexander Gaulands „Vogelschiss“-Skandalrede, weiß er nicht, was er schlimmer finden soll: den Geschichtsrevisionismus der AfD oder ihren offenbar erfolgreichen Versuch, damit „auf Augenhöhe mit der Gegenwart“ zu gelangen.

Czollek veröffentlicht auch Gedichte. „Schreibe so, dass die Nazis dich verbieten würden!“, lautet die Überschrift über das Kapitel, in dem er sich für eine „wehrhafte Poesie“ ausspricht. Er bedauert, dass seit der Zeitenwende von 1989 Literatur, die sich explizit auf Politik bezieht, genauso out sei wie der Kommunismus. Weil Spracharbeit oft per se als politisch gelte, hätte sich mancher Kollege im Desinteresse an der Gegenwart eingerichtet.

Czolleks Zeitdiagnostik fällt düster aus

Doch Sprache, schreibt Czollek „kann Gewalt ausüben“. Als Kronzeuge fungiert für ihn dabei Victor Klemperer, der 1947 gefordert hatte, dass man „viele Worte des nazistischen Sprachgebrauchs für lange Zeit, und einige für immer, ins Massengrab“ legen solle.

Den Aufruf des Linguisten überträgt Czollek auf die heutigen Kontroversen um Gendersternchen und neu lektorierte Kinderbücher. Er empfiehlt das Weglassen von diskriminierender Sprache. Das N-Wort meint er damit genauso wie ein Z-Schnitzel.

[Max Czollek: Gegenwartsbewältigung. Carl Hanser Verlag, Berlin 2020. 205 Seiten, 20 €.]

Die autoritäre Rechte erstarkt, verbaler Hass eskaliert zu realer Gewalt. Heimat ist ein Modewort, gemeint sind damit oft nur die, die immer schon dazugehört haben.

Czolleks Zeitdiagnostik fällt düster aus. Aber es gibt auch Hoffnung, sie ist für ihn genauso real. Das Stichwort dazu: Intersektionalität, ein Konzept, das vor dreißig Jahren von der amerikanischen Juristin Kimberlé Williams Crenshaw entwickelt wurde. Kurz gesagt geht es darum, dass Minderheiten sich verbünden, um Diskriminierung zu bekämpfen. Czolleks Vision: eine „jüdisch-muslimische Leitkultur“.

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