Deutscher Buchpreis für Bodo Kirchhoff: Warum die Auszeichnung von "Widerfahrnis" keine gute Entscheidung ist
Für seine Liebes- und Flüchtlingsnovelle "Widerfahrnis" bekommt Bodo Kirchhoff den Deutschen Buchpreis 2016. Die Geschichte ist gegenwärtig, aber nicht preiswürdig. Ein Kommentar.
Hat es eine so lange Dankesrede in der zwölfjährigen Geschichte des Deutschen Buchpreises schon einmal gegeben? Bodo Kirchhoff, der gerade den Preis für seine Novelle „Widerfahrnis“ erhalten hat, will gar nicht mehr, so scheint es, aufhören mit der Lobpreisung der Stadt Frankfurt, ihres Fußballvereins, ihrer geistigen Tradition, mit der des Deutschen Buchpreises und wie dieser aus der Taufe gehoben wurde in Frankfurt; auch eine Spitze gegen den nach Berlin gezogenen Suhrkamp Verlag hat er parat und damit ein Hoch auf seinen Verleger, den Unseld-Sohn Joachim von der Frankfurter Verlagsanstalt. Schon cool, wenn Kirchhoff diese Rede improvisiert hat. Vielleicht war er auch überzeugt von seinem Buch und hatte sich vorher eine Menge aufgeschrieben.
Wichtiger jedoch ist die Frage, was die Jury bewogen haben mag, so eine missliche Entscheidung zu treffen und „Widerfahrnis“ auszuzeichnen: eine Geschichte, die Züge einer Männerphantasie trägt, die mitunter peinvoll kitschig ist und partout aktuell sein will, in dem sie die Flüchtlingskrise des Sommers 2015 mit einer letzten Liebe verknüpft.
In Italien muss sich Kirchhoffs Paar mit der Flüchtlingskrise auseinandersetzen
Ältere Frau, sie heißt Leonie Palm, klopft bei einem älteren Mann an der Tür, er wird nur Reither genannt. Er bittet sie rein, sie reden und beschließen, eine nächtliche Spritztour mit ihrem Dreier-BMW-Cabrio zu einem Alpensee zu machen, fahren weiter nach Italien, bis nach Sizilien. Klar, dass beide sich näherkommen. In Taormina begegnet ihnen mehrmals ein Mädchen, das wohl geflüchtet ist, dessen sie sich dann annehmen – Palm hat eine Tochter verloren, Reither einmal einer Freundin nicht zu einem gemeinsamen Kind zugeraten, es kam zu einem Schwangerschaftsabbbruch. Das Mädchen entwischt ihnen, Leonie Palm versucht es zu finden, erfolglos. Und Reither, wieder allein, begegnet einem weiteren Flüchtling, einem Fischer aus Nigeria, der ihm erstmal eine Flasche Wein aufmacht: „Ein ploppender Laut, erst vor wenigen Tagen zuletzt gehört, aber ein Wiederhören, als wären Wochen vergangen.“ Kirchhoff ist ein souveräner Erzähler, das merkt man auf jeder „Widerfahrnis“-Seite, allein dass die Geschichte im Konjunktiv beginnt und immer mal wieder das Erzählen an sich thematisiert wird. Und doch wird es immer hanebüchener, bis zur plattesten Rollenvertauschung: Reither ist am Ende auf den Fischer aus Nigeria angewiesen.
Gab es dann doch Probleme mit Thomas Melles Chronik einer bipolaren Störung, weil diese eben kein Roman ist? Wurde André Kubiczeks Jugendsommerroman „Skizze eines Sommers“ für zu leicht, zu „Tschick“-mäßig empfunden oder Philipp Winklers „Hool“ als zu milieuverhaftet? Bodo Kirchhoff hat zuletzt mit „Die Liebe in groben Zügen“ und „Verlangen und Melancholie“ zwei großartige, preiswürdige Romane geschrieben – es wirkt, als werde er nun dafür mit einem viel schlechteren, aber ach so wahnsinnig gegenwärtigen Buch nachträglich ausgezeichnet.
Gerrit Bartels
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