Kirchhoff-Roman „Die Liebe in groben Zügen“: Paare sind Festungen
Glückssuche mit Schreckmomenten: Bodo Kirchhoff hat mit „Die Liebe in groben Zügen“ einen fulminanten Beziehungsroman geschrieben. 22 Kapitel, die beweisen, dass über die Liebe im Allgemeinen und die Ehe im Besonderen nie alles gesagt sein kann.
Man hat vor der Lektüre dieses neuen Romans von Bodo Kirchhoff ein wenig Angst: ein fast 700 Seiten dicker Roman, in dem es um nichts anderes als die Liebe geht, als wäre dazu in der Literatur nicht schon alles gesagt; der zudem von „einer langen Ehe als ewiger Glückssuche“ erzählt, wie es auf dem Rücken des Vorabexemplars heißt. Von einem „Lebensroman“ war in der Ankündigung die Rede, was ebenfalls furchteinflößend klingt, kennt man den 1948 in Hamburg geborenen, in Frankfurt und am Gardasee lebenden Bodo Kirchhoff doch als einen Schriftsteller, der eher zu viel als zu wenig Selbstbewusstsein besitzt; zur Selbstverliebtheit ist es da nicht allzu weit. Und dann dieser seltsame, aber durchaus attraktive, das Sujet des Romans wieder auf einen gewissen Abstand bringende Titel: „Die Liebe in groben Zügen“!
Kirchhoff überrascht seine Leser allerdings schon auf der ersten Seite mit dem Eingeständnis, dass sein Romanstoff womöglich wenig originell ist, dass über die Liebe und viele ihrer Facetten auch schon oft geschrieben worden ist. „Aber welches Liebesglück ist schon originell“, fragt der auktoriale Erzähler, „und welches Sehnen hat nicht etwas von einem Gedicht, das die Zeiten überdauert? Es gibt kein modernes Unglück, es gibt nur das alte Lied.“
Weshalb Kirchhoff, auch daraus macht er gleich zu Beginn keinen Hehl, nicht nur die Geschichte eines Paares erzählt, sondern eine Brücke über die Zeiten schlägt, zurück ins 12. und 13. Jahrhundert, zu Franz von Assisi, zu dessen Glaubensschwester Klara von Assisi. Mithin zu einer anderen Art Liebe, einer heiligen, zu vielen Fantasien anregenden, in jedem Fall nicht auserzählten Liebe. Kurzum: von der Liebe eines Paares, wie es einer von Kirchhoffs Protagonisten sagt, Kristian Bühl, der über Franz und Klara einen Roman schreibt, „über das ich nicht mehr weiß als über Sie und ihre Frau. Aber man kann aus dem Leeren schöpfen.“
Die Angst vor der Lektüre, die Zweifel an diesem Unterfangen, das Unbehagen angesichts der hochfahrenden Ambition, das alte Liebeslied gleich noch mit einer religiösen Strophe zu versehen – all das erweist sich im Verlauf der Lektüre als unbegründet. „Die Liebe in groben Zügen“ ist ein fulminanter, ziemlich grandioser Roman über die Liebe und ihre Wirrungen und Erfüllungen, über die Ehe und wie es ist, in einer langen Ehe trotzdem nicht fertig zu sein mit der Liebe, in welcher Konstellation dann auch immer. Und ein wenig auch über eine Generation, die es sich schön gemacht hat, die genauso etabliert wie weitgehend unpolitisch ist, „gemeinsame Abende, gemeinsame Urlaube, ein Leben, für das es kein Ende zu geben scheint“.
Da sind also Vila und Renz, Kirchhoffs Hauptprotagonisten, das alte Paar in seiner Festung, eigentlich heißen sie Verena Wieland und Bernhard. Sie 52 Jahre alt, bald 53, er ist 63, bald 64, wohnhaft in Frankfurt-Sachsenhausen, Schadowstraße, eine erwachsene Tochter, Katrin. Vila arbeitet festangestellt beim Fernsehen, als Moderatorin der „Mitternachtstipps“; Renz war früher Filmkritiker, jetzt ist er freier Drehbuchautor, in der Hauptsache für Soaps. Dann sind da Franz und Klara, die beide dem weltlichen Leben entsagen, „Verrückte aus heutiger Sicht“; und schließlich erzählt Bodo Kirchhoff mindestens drei weitere Liebesgeschichten. Vor allem die von Vila und Bühl, dem Franz-und-Klara-Romanschreiber und beurlaubten Latein-und-Ethik-Lehrer, den Vila, wie ihren Mann auch, nur mit Nachnamen anredet, sowie die von Renz und Marlies Mattrainer, einer selbstständigen, vor allem fürs Fernsehen tätigen Producerin, die an Brustkrebs erkrankt ist.
Zu guter Letzt gibt es die Geschichte von Bühl und Cornelius Kilian-Siedenburg. Sie handelt von einer Internatsfreundschaft, die vermutlich ein bisschen mehr gewesen ist, aber überschattet wird von den sexuellen Nachstellungen eines Sportlehrers. Gewissermaßen auf der Rückseite ist diese Geschichte eine knallharte sexuelle Missbrauchsgeschichte, die an Kirchhoffs eigene, vor zwei Jahren im „Spiegel“ niedergeschriebene erinnert. Daran, dass Kirchhoff seinerzeit darlegte, dass sich auch der Missbrauch, zumindest der ohne physische Gewalt, leider Gottes auf dem „weiten Feld der Liebe“ abspiele.
In seinem Roman enthalten viele der 22 Kapitel allgemeine, in den Erzählstrom eingebettete Reflexionen über die Liebe. „Liebe kommt auf uns zu, nicht andersherum, wir können ihr nur davon laufen, sie als trauriger Sieger abhängen, oder den Atem anhalten, wenn sie plötzlich wie etwas Drittes neben uns und dem anderen steht: ein Schrecken fast ohne Vorzeichen, wohl der heilsamste, den das Leben bereithält.“ Dass diese Sentenzen tatsächlich keine Allgemeinplätze sind liegt daran, dass Kirchhoff sie mit vielen Widerhaken versieht: vom „traurigen Sieger“ über „das alte Lied“ und „Liebende sind Zeitpiraten“ bis hin zum „heilsamen Schrecken“. So wie die Liebe hier sowieso stets voller Ambivalenzen steckt, voller Tücken und Gefahren: „Also war er unter die Liebenden gefallen, ohne echten Sturz, der käme früh genug,“ sinniert Renz einmal.
Seine Frau Vila ist ungestümer. Sie lässt sich wirklich fallen, sie will diesen Bühl, den sie als künftigen Wintermieter ihres Gardaseehauses kennenlernt und gleich dazu bringt, ihr nach Kuba zu folgen. Dort will sie ihre schwangere Tochter Katrin von einem Schwangerschaftsabbruch abbringen. Gleichzeitig lässt sie Umsicht walten. Anders als Renz mit seiner Marlies wahrt sie das Geheimnis ihrer Liebe zu dem über ein Jahrzehnt jüngeren Bühl, auch weil ihr die Vorzüge einer langen Ehe bewusst sind. Überhaupt ist Vila die eigentliche Heldin des Romans. Insbesondere ihren noch so kleinen Regungen in allen Lebensbelangen spürt Bodo Kirchhoff nach – in einer Sprache, die eigenwillig und nicht wirklich rund ist, die immer wieder zu stocken scheint, aber trotzdem im Fluss ist und ohne eigens abgesetzte Dialoge auskommt, deren Syntax von Nebensätzen dominiert wird, von nachgestellten Sätzen, deren Bezug nicht immer gleich offensichtlich ist.
Der Bonvivant als gebrochene Figur: Schöne Dinge garantieren kein Glück
Es ist vielleicht der größte Vorzug dieses Romans, dass der 64-jährige Schriftsteller derart die Gewichte verschiebt. Dass er sein vermeintliches alter ego Renz mehr und mehr, gerade nach dem Tod der krebskranken Marlies, aus der Perspektive Vilas betrachtet, so wie er insgesamt die Lebens- und Liebesgeschichten seiner Figuren geschickt miteinander verschränkt. Vila wird zum Zentrum des Romans, Bühl und seine Vergangenheit ragen da mit hinein, die Franz-Klara-Geschichte läuft als roter Faden mit, glücklicherweise dezent. Die Liebe mag etwas Göttliches haben, an der Weltlichkeit der Ehe aber gibt es keinen Zweifel.
Und Renz, der einstige Spieler und Allesmitnehmer? Spart sich übermäßiges Vitalitäts- und Sexgetue, Walsereien oder Philip-Roth-Potenzhubereien. Renz ist ein Mann im Spätherbst des Lebens, der weiß, dass in Liebes- und Sterbensdingen ein Jaguar, ein Haus am Gardasee, Silvesterferien auf Jamaika oder Hochsee- und Gardasee-Bootstouren nicht viel helfen. Ein Bonvivant als gebrochene Figur.
Wenngleich Bodo Kirchhoff bei der unermüdlich hingebungsvollen Schilderung des alltäglichen, von materiellen Sorgen kaum belasteten Lebens von Vila und Renz durchblicken lässt, wie sehr ihm selbst an schönen Dingen liegt – so oft ist die Rede von dem Jaguar, den Renz fährt, von den „Bootstagen“ und „Gnadentagen“ am See, von den Vorzügen italienischer Weine und Mahlzeiten. Überhaupt liest sich „Die Liebe in groben Zügen“ wie eine Liebeserklärung an Italien und vor allem den Gardasee, wo Kirchhoff ja ein Haus besitzt. „Das Dilemma jedes Erzählens: ganz bei den Tatsachen bleiben, auf die Gefahr hin, nichts Besonderes zu erzählen (Das ist der Herbst, willkommen in der Pfalz ...), oder eine eigene Wahrheit schaffen, mit dem Risiko, dass andere sie abtun können, als pure Erfindung“, heißt es einmal recht unvermittelt aus dem Erzähler-Off. Und bei so einem Dilemma helfe es, „wenn Fakten und Erzählerwahrheit gelegentlich ein und dasselbe sind“.
Ob Kirchhoff sich hier selbst auf die Schliche kommen will, er sein autobiografisch gesättigtes Schreiben gleich mitsanktioniert? So wie er in diesem Roman oft betont, dass manches Kästlein besser zubleibe (wie das von Franz und Klara), es besser sei, wenn Eheleute nicht alles voneinander wissen, manches besser nicht gesagt werde – um genau das zu tun: Kästlein öffnen, Wissen bereitstellen, Erzählen.
„Lange Ehen sind geliebte Irrtümer“, heißt es am Ende. „Aber unser kleines Leben (...) löst sich auf, wenn wir jeden seiner Irrtümer, seiner Knoten kennen, das zuviele Wissen lockert die Knoten, einen nach dem anderen, endlich Luft, denkt man, und in Wahrheit ist es der freie Fall.“ Bodo Kirchhoff hat einen besonderen Roman geschrieben – und demonstriert aufs Schönste, dass über die Liebe im Allgemeinen und die Ehe im Besonderen nie alles gesagt sein kann.
Bodo Kirchhoff:
Die Liebe
in groben Zügen.
Roman. Frankfurter Verlagsanstalt,
Frankfurt/Main 2012. 670 Seiten, 28 €.
Gerrit Bartels
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