Bodo Kirchhoffs "Widerfahrnis": Genau die richtige Pizza
Selbstgerecht-generalisierend: Bodo Kirchhoffs Liebes- und Flüchtlingsnovelle „Widerfahrnis“ ist literarisch gewandt, inhaltlich aber von Ressentiments geprägt.
Ein Mann trifft eine Frau. Sie steigen in ein Auto. Erst wollen sie in die Berge, dann ans Meer. Dort verlieben sie sich, nehmen ein Straßenkind auf, und dann gibt’s natürlich Probleme. Damit wäre der Plot von Bodo Kirchhoffs neuem Buch „Widerfahrnis“ lapidar zusammengefasst – aber nicht entstellt. Denn wirklich wundern tut sich Reither, Kleinverleger im Ruhestand, kaum, als eine Unbekannte nachts in seiner Tür steht. „Die Palm“, wie er sie bald nennt, lässt sich zum Wein hereinbitten, und ein paar gestelzte Dialogzeilen später geht es bereits auf große Fahrt. Es muss schon jemand ein sehr versierter Erzähler sein, um den Aufbruch zweier Fremder schnörkellos wie glaubhaft zu schildern. Erzählen kann Bodo Kirchhoff allemal.
Die Novelle braust denn auch dahin wie das Cabrio gen Sizilien. Von der ersten bis zur letzten Zigarette holt Kirchhoff nicht mal einen Zeitsprung lang Luft. Seine in die Jahre gekommenen Protagonisten haben mehr gemeinsam als eine Vorliebe für Nikotin (allein auf den ersten 30 Seiten glimmen mehr Filterlose als in einem Hardboiled-Krimi). Neben Alter und Einsamkeit wäre da vor allem der Umstand, dass beide Kinder verloren haben: Reither seines noch im Bauch einer früheren Lebensgefährtin, Leonie Palm ihre Tochter durch (wohl selbst gewählten) Erfrierungstod. Sie hat ein Buch darüber geschrieben, das Reither kurz vor ihrer Begegnung in die Hände fällt.
Es gibt sie noch, die guten Dinge
Es bleibt dies nicht die einzige schicksalhafte Verknüpfung. An einer Raststätte schießt die Palm ein Foto, das Reither bereits in seiner Wohnung betrachtet. Solche surrealen Motive verdichten den Eindruck: Es geht um die letzte, schon im Entstehen überhöhte Liebe. Mit offenem Visier: Neben fein beobachteten Gesten des Zögerns oder der Zuneigung findet sich auch Kitsch. „Ein Wind kam auf, für Momente nur, aber schon bewegten sich Millionen von Blättchen, und es sah sogar aus, als würden die Sterne zittern“ – Sätze wie dieser stechen unschön aus Kirchhoffs größtenteils klarer Prosa hervor. Noch alberner nur, dass die Herrschaften bis zum Beischlaf darauf bestehen, einander zu siezen. Das führt zu Dialogen wie: „Und kann ich ab jetzt Julius sagen? Julius, ist das die richtige Pizza?“ Darauf er: „Bleiben Sie lieber bei Reither. Bleib dabei.“ Darauf sie: „Und ist das die richtige Pizza, Reither?“ Und er: „Es ist sogar genau die richtige Pizza.“
Die Umständlichkeit ist das Symptom eines tief verwurzelten Konservatismus. Vor allem Reither sagt bei jeder Gelegenheit unverblümt: Früher war alles besser. Autos, Musik, Wein, Möbel und, tja, auch das eigene Spiegelbild. Von Büchern ganz zu schweigen. Über Reithers Leselampe heißt es, „ihr Licht war in all den Jahren auf Abertausende von Seiten gefallen, davon die wenigsten tauglich für ein Buch, das diese Lampe hätte überdauern können.“ Stellenweise liest sich „Widerfahrnis“ wie eine Romanvariante des Manufactum-Katalogs. Es gibt sie noch, die guten Dinge.
Sorgloser Umgang mit Klischees
Überhaupt hält Reither nicht hinter dem Berg damit, was er von der Gegenwartsliteratur hält: nichts. Als die Palm ihn einmal ganz arglos fragt, wann er denn zu Bett gehe, denkt er über den Ausdruck nach. „Man hörte ihn nicht mehr so oft, und geschrieben sah man ihn kaum noch, in neueren Büchern eigentlich gar nicht, als bräuchten die Verfasser keinen Schlaf oder besäßen keine Betten und ruhten allenfalls auf Isomatten, während die Gedanken in Spannung blieben, Worte und Sätze produzierten, so nervös wie die Musik in den Clubs, in denen solche Leute zu Hause waren.“ Der Satz steht stellvertretend für Bodo Kirchhoffs Kunst, aus wenigen Worten bildreiches Kapital zu schlagen – um in einer Misstrauenserklärung gegen „solche Leute“ zu enden. Die arme Palm muss sich belehren lassen: „Zu Bett? Ich gehe spät zu Bett, sagte Reither, aber Bett heißt nicht Schlaf.“ Schon gut.
So pedantisch Reither mit Redewendungen verfährt, so sorglos geht er mit Klischees um. „Frauen schreiben offener als Männer, werden nur von den eigenen Sätzen oft mitgeschleift. Männer schreiben mit mehr Übersicht, oft auch nur mit Übersicht“, weiß er. Außerdem „erzählten Frauen von ihren Wunden, Männer von ihren Narben.“ Es überrascht nicht, dass der Erzähler auch sein Pärchen in überkommene Rollen drängt. Auf dem Beifahrersitz faltet Reither angesichts der Frau neben sich „die Hände im Nacken, damit sie nichts taten, das er bereuen könnte“, und wenn eine kurze Nacht bevorsteht, erklärt er: „Länger an Ihrer Seite zu schlafen, Leonie, wäre schon ein Versäumnis.“ Zuweilen riecht das Buch nach zu Recht aus der Mode gekommenem Aftershave.
Geschmacklose Idealisierung des Flüchtlingsdaseins
Der eigentliche Clou aber ist die Flüchtlingsthematik. Sie wird früh angerissen und geschickt weiterbespielt – bis beide ein illegal eingewandertes Mädchen treffen. Ob als Ersatz für den Nachwuchs, ob aus dem Impuls, Gutes zu tun: Die Palm und Reither kümmern sich um das Kind. Das scheint von der Zuwendung überfordert und flieht.
Doch der selbstgerecht-generalisierende Grundton von „Widerfahrnis“ macht vor den Schicksalen der Zuwanderer nicht Halt. Wenig später erhält Reither verletzt Hilfe von einem Afrikaner. Prompt spielt er seine „Bekannten mit Ehe und Kinderglück, die Kleinen dumpf vor dem Smartphone am Esstisch“ gegen die vermeintliche Romantik des mittellosen Lebens aus. Er beneidet „diesen jungen Mann auf der Flucht“, und zwar „um sein Leben ohne Dach und ohne Bett, ohne Konto und ohne Fürsprache, mit nichts in der Hand außer Frau und Tochter und dem eigenen Mut.“ Ein Flüchtlingsdasein zu idealisieren, um die Moderne abzustrafen, ist mindestens geschmacklos.
Niemand wird hier zu einer greifbaren Figur – außer Reither. Trotzdem: Literarisch ist nachvollziehbar, dass „Widerfahrnis“ auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis steht. Bei aller Gewandtheit des Erzählens muss für die Auszeichnung aber auch eine Rolle spielen, was einer erzählt. Eine Novelle zum „Roman des Jahres“ zu küren, die sich in der Ummantelung von Ressentiments gefällt, wäre ein fatales Signal.
Bodo Kirchhoff: Widerfahrnis. Novelle. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2016. 224 Seiten, 21 €.
Tilman Strasser
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