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Tänzer von Sasha Waltz im Foyer der Elbphilharmonie. Bis 4. Januar wird „Figure Humaine – eine choreografisch Raumerkundung“ aufgeführt.
© Axel Heimken/dpa

Sasha Waltz in der Elbphilharmonie: Vor der offiziellen Eröffnung: Die Aufführung als Führung

Expedition Elbphilharmonie: Sasha Waltz, künftige Intendantin des Berliner Staatsballetts, weiht mit ihren Tänzern und Musikern das neue Hamburger Konzerthaus ein.

Sie nennen sie die Tube, den Tunnel. Wer nicht den Aufzug nimmt, fährt mit ihr, der 82 Meter langen Bogenrolltreppe, durch einen hellen Glaspaillettenkanal hinauf ins Freie: Panoramablick auf Hafen und Stadt, Wasser, Himmel, Schiffe, Kräne. Die Elbphilharmonie der Architekten Herzog & de Meuron strebt nach oben und zieht die Menschen mit. Schon nach wenigen Momenten, wenn man die Plaza, die mittlere Schicht zwischen dem Backsteinspeicher und dem gläsernen Wellenkamm, erreicht hat, wird klar: Das Gebäude gehört zu Hamburg. Man kann sich Hamburg nicht mehr ohne das neue Wahrzeichen vorstellen, von dem böse Zungen einst behaupteten, es habe eine skandalöse Kostenexplosion und flughafenartige Verzögerungen gegeben.

Am 11. Januar ist endlich die offizielle Eröffnung. Bis dahin darf im großen Konzertsaal – Weltklasseakustik ist versprochen – kein Ton erklingen. Und dennoch ...

Einer fantastischen Aufgabe hat sich Sasha Waltz, die Berliner Choreografin und künftige Intendantin des Berliner Staatsballetts, da in Hamburg gestellt. Wie soll man es bezeichnen? Als künstlerische Anverwandlung und Weihe vor der eigentlichen Einweihung? Als soft opening? Achtzig Tänzer und Musiker erkunden einen unberührten Bau, flirten mit der Architektur, und ihnen folgen gut 500 Gäste, die nicht wissen, wohin sie schauen sollen. Auf den Chor, auf die Oberkörper, die sich in Wellenbewegungen auf die Balustrade werfen, auf den Tänzer, der wie eine Statue auf dem Treppengeländer steht, auf die fünf kraftvoll-eleganten Menschen, die einander abwechselnd auf Händen tragen, wie eine Gruppenskultur, wenn sie plötzlich wie im Mythos zum Leben erwacht?

Waltz hat auch das Jüdische Museum und das Neue Museum eingetanzt

Sasha Waltz hat Erfahrung mit Raum- Dialogen. Auf ähnliche Art und Weise hat sie in Berlin Daniel Libeskinds Jüdisches Museum und das Neue Museum von David Chipperfield eingetanzt, ebenso Zaha Hadids MAXXI-Museumsbau in Rom. Als künstlerische Leiterin der Schaubühne gelang ihr im Jahr 2000 mit der Choreografie „Körper“ das Kunststück, den großen Spielraum am Lehniner Platz in einer Dimension zu öffnen, wie es seither nie mehr geschehen ist.

Aufwärts in Kreisen und Wellen. Den Wegen in der Elbphilharmonie folgen, die größtenteils den menschlichen Hörgängen nachempfunden sind. Das ist ihr Plan. Eine Aufführung als Führung. Es geht über sechs Stockwerke, um den großen Saal herum. Die Foyers bieten großzügige Durchblicke nach außen und nach innen – ein völlig anderer Eindruck als das klaustrophobische Innenleben der im Januar 2015 eröffneten Philharmonie de Paris von Jean Nouvel. Die Elbphilharmonie-Foyers laden zum Verweilen ein, zum Umherschweifen. Im Sommer wird sich den Konzertbesuchern eine visuelle Hafensinfonie bieten, während sich Nouvels philharmonisches Raumschiff gegen die Banlieue im Pariser Norden abkapselt.

Ein Schiff ist gekommen. Der Blick auf die Elbphilharmonie.
Ein Schiff ist gekommen. Der Blick auf die Elbphilharmonie.
© Iwan Baan/Promo

Auftakt im Treppenhaus mit dem Chorstück „Figure Humaine“ von Francis Poulenc. Dessen Titel hat Sasha Waltz auch ihrer Wanderung durch die Elbphilharmonie gegeben. Der Körper, der Tanzgestus als humanes Zeichen. Das Vocalconsort Berlin unter der Leitung von Nicolas Fink stimmt an und ein. Französisch-katholisch, feierlich. Poulencs Komposition von 1943 liegen Gedichte von Paul Éluard zugrunde. Erlebnisse aus zwei Weltkriegen sind eingeflossen. Etwas zugleich Bedrohliches und Tröstendes strahlt diese Gesangskunst aus. Man fühlt, man atmet mit den Sängern – und begegnet ihnen wieder am Ende, wenn sie leidenschaftlich Poulencs und Éluards Hommage an die Liberté darbringen.

Die Zuschauer ziehen hinterher - immer höher

Jetzt mischen sich die Tänzer frech unter die Chormitglieder, spielen mit ihnen, zeichnen mit Kreide Gliedmaßen auf die schwarze Konzertkluft. Jetzt fühlt sich auch der Raum anders an, hat sich Orientierung eingestellt. Wann hält man sich auch einmal gut zwei Stunden in einem Foyer auf, mit Tänzern, die jede Ecke mit ihren Körpern ausleuchten? Über die Treppen bilden sie, liegend, eine Kette, die immer wieder abreißt und sich neu aufbaut, in der Menschen zurückbleiben wie Ertrunkene. Spitz-dramatisch die musikalischen Soli mit Stücken von Helmut Lachenmann fürs Cello oder Iannis Xenakis für Schlagwerk. Hier erklingt ein Stück Boccherini oder Bach, dort ein Lied von Sofia Gubaidulina. Folgen die Tänzer den Musikern oder umgekehrt? Die Zuschauer suchen sich ein Fleckchen, einen Beobachtungsposten, dann ziehen sie weiter. Immer höher – bis sich die Tür zum großen Konzertsaal öffnet. Der erste Eindruck: Wie hell es hier ist! Über die Akustik lässt sich wenig sagen. So viel doch: Schon die Foyers haben einen guten Klang, und im Saal erprobt Sasha Waltz die Stille.

Es darf ja nichts gespielt werden. Auf dem Podium Notenständer. Acht Musiker mit ihren Instrumenten und eine Sängerin stellen sich auf. Sie spielen – nicht. Aber das stimmt so auch nicht. Sie spielen „4’33“ von John Cage. Bei der Uraufführung 1953 war es ein Piano, das der Pianist spielte. Im Geiste. Aber welche Noten? Cages Anweisung lautet schlicht „Tacet“. Und wie sie da jetzt auf der Bühne sind, die Instrumente ansetzen, in der Hand wiegen, ist es ein Hineinhören in sich selbst und in den Raum, der tief verstummt ist. Jeder leise Seufzer ist hörbar. Die Stille klingt wunderbar.

Man hört doch immer Töne, schrieb John Cage. Auch Geräusche des Alltags sind Musik. Man hört das eigene Nervensystem und den Blutkreislauf. Andere sprechen von Meditation. Sasha Waltz lässt über Architektur meditieren, in der Architektur.

Wie reagiert der Raum auf Tänzer und Zuschauer?

Die Tänzer erproben Sitz- und Hörhaltungen. Schließlich geht es ums Elementare. Wie reagiert der Raum, wie ist es für Zuschauer und Performer? Sie simulieren Hustenfälle, wechseln die – sehr bequemen – Plätze, erzeugen rhythmische Unruhe; wie es so ist im wirklichen Konzertleben. Sasha Waltz hat auch Humor. Sie zeigt nicht nur expressionistischen Ernst, wenn auch sehr viel davon.

Die Elbphilharmonie-Expedition setzt sich aus Bausteinen ihres Repertoires zusammen, auch aus dem „Sacre“. An das heidnische Ritual erinnert der stumme Auftritt der Tänzerinnen auf der großen Bühne, an das Frühlingsopfer. Und wenn man von all den feierlich schönen Dingen, der einfühlsamen Animation leicht betäubt ist, bricht mit einem Mal wilder Karneval los. Beim Verlassen des Konzertsaals brandet der Lärm auf. Alles spielt, rennt, schreit, wirbelt durcheinander.

Endlich frei. Ein Zuschauer wird zum Tanz geholt, eine Zuschauerin entführt. Zärtlicher Kontakt, heftige Improvisationen. Kein Rock ’n’ Roll, aber endlich Erotik. Das Ganze ist ja als Vorspiel gedacht, es soll sich nicht entladen.

Hier trennen sich Architektur und Choreografie. Die eine baut ein bisschen für immer, die andere ganz für den Moment.

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