Gastland Finnland auf der Frankfurter Buchmesse: Von der coolen finnischen Literatur
Sofi Oksanen, Philip Teir, Kjell Westö: Das Gastland Finnland hat seine Literaturstars, aber auch eine unglaubliche Vielfalt. 140 Titel kommen eigens zur Frankfurter Buchmesse auf Deutsch heraus. Ein Rundumblick.
Finnlands Gastlandauftritt auf der Frankfurter Buchmesse hat ein Gesicht: das von Sofi Oksanen. An dieser 1977 in Mittelfinnland als Tochter einer Estin und eines Finnen geborenen Schriftstellerin kommt dieser Tage keiner vorbei. Sie ist der finnische Literaturstar, auch die derzeit international erfolgreichste Schriftstellerin des Landes. Ihr jüngster Roman „Als die Tauben verschwanden“ (Kiepenheuer & Witsch, übersetzt von Angela Plöger) kam 2012 mit einer für das fünfeinhalb Millionen Einwohner zählende Land geradezu sagenhaften Auflage von 100 000 Exemplaren in die Läden.
Oksanen eignet sich schon wegen ihres guten Aussehens und Styles als Cover-Girl, als Popstar, mit oft tiefrot geschminkten Lippen, den im Wechsel lilablau-schwarzfarbenen Dreadlocks, ihrer Vorliebe für schwarze Klamotten. Doch auch ihre Romane treffen einen Nerv. Sie handeln von den Schrecken und Folgen des Nationalsozialismus und Stalinismus in Finnland und Estland und den jeweiligen Verstrickungen der Einheimischen. Oksanen macht dunkle Flecken der Geschichte ein bisschen sichtbarer, Kollaborateure und Verräter. Aber auch die Menschen, die unter den jeweiligen Besatzern leiden mussten, sind ihre Helden, darunter oft starke, widersprüchliche Frauen.
Oksanen darf sich durch aktuelle Ereignisse wie die russische Annexion von Teilen der Ukraine bestätigt fühlen. Aus der Geschichte, so der Subtext ihrer Romane, lassen sich gegenwärtige Bedrohungen für die baltischen Staaten ableiten. Das hat Oksanen seltsamerweise den Vorwurf eingetragen, nationalistische Tendenzen zu fördern. Beirren lässt sie sich davon nicht: „Überdies konnten die Ostblockstaaten in der Zeit ihrer Abschottung nicht an der Aufarbeitung der Vergangenheit teilnehmen, des Weltkriegs, des Faschismus und Stalinismus“, urteilte sie in einem Aufsatz für den Tagesspiegel. Und: „Russlands Politik ist extrem nationalistisch: Sie ist xenophob, migrantenfeindlich und homophob, übt autoritäre Macht aus und schürt ethnischen Hass.“
Die finnische Literatur präsentiert sich unter dem Motto "Finnland. Cool"
Die Popstarrolle Oksanens, ihre Fotogenität, ihr politisches Engagement verdecken die Vielfalt der finnischen Literatur ein wenig. Sie zeigt sich allein quantitativ: 140 Titel wurden anlässlich des Frankfurter Auftritts ins Deutsche übersetzt, in der Regel sind es 30 bis 40 Titel pro Jahr. Die Organisatorin des Auftritts, die Finnish Literature Exchange, abgekürzt FiLi, tatsächlich aus 12 Frauen bestehend, hat sich ins Zeug gelegt – auch wenn das Auftrittsmotto, „Finnland. Cool“, unglücklich gewählt ist: So cool, im popkulturellen Sinn, ist die finnische Literatur nicht, aber eben auch nicht unterkühlt oder gar technokratisch.
Sofi Oksanen ist nicht die einzige finnische Autorin, die sich historischer Themen annimmt, auch Kolleginnen und Kollegen wie Katja Kettu, Rosa Liksom oder Kjell Westö beschäftigen sich in ihren Büchern mit den Auswirkungen des Bürgerkriegs zwischen den Weißen und den Roten kurz nach der erst 1917 erfolgten Unabhängigkeit Finnlands von Russland. Oder mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs, mit Winterkrieg, Fortsetzungskrieg und Lapplandkrieg. Andererseits tummeln sich in der finnischen Literatur auch Hipster und Weltbürger, geht es dort um die Gegensätze von Stadt und Land, nicht zuletzt unter dem Eindruck der Globalisierung. Kati Hiekkapelto lässt in ihrem Thriller „Kolibri“ (Heyne, übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara) eine Polizistin mit Migrationshintergrund ermitteln; die Heldin von Johanna Holmströms Roman „Asphaltengel“ (Ullstein, übersetzt von Wibke Kuhn) hat einen aus Nordafrika stammenden Vater muslimischen Glaubens und eine finnische Mutter, die zum Islam konvertiert ist.
Philip Teir: das männliche Gegenmodell zu Oksanen
Als männliches Gegenmodell zu Oksanen könnte man den 1980 geborenen, finnland-schwedischen Autor Philip Teir bezeichnen. Dieser sitzt an einem von heftigen Regenfällen wie von strahlendstem Sonnenschein geprägten Spätsommertag in der Villa Kivi, einem Literaturhaus direkt an der mitten ins Zentrum Helsinkis ragenden Töölö-Bucht, und stellt seinen Roman „Winterkrieg“ vor (Blessing Verlag, übersetzt von Torsten Alms). Teir, bis vor kurzem Kulturchef des „Hufvudstadsbladet“, der schwedischsprachigen Zeitung Helsinkis, wirkt smart und eloquent. Der Trend zur Historie ist ihm nicht entgangen, weshalb er seinem Roman den Titel „Winterkrieg“ gegeben hat – nur ist der Winterkrieg in seinem Roman ein Ehekrieg zwischen dem fast 60-jährigen Soziologen Max Paul und seiner Frau Katriina. Probleme haben nicht nur die beiden miteinander, sondern auch ihre erwachsenen Töchter. Die eine, Helen, führt ein scheinbar geregeltes bürgerliches Leben mit Mann und zwei Kindern; die andere, Eva, hat mit Anfang 30 ihren Platz im Leben immer noch nicht gefunden und beginnt ein Kunststudium in London.
Drei Frauen und ein Mann als Hauptfiguren: Teir erklärt, dass er vor allem einen Roman über Frauen schreiben wollte, einen über zwei Generationen – und einen, der sich doch bitte schön von der Männlich- und Tapferkeitsverherrlichung in finnischen Kriegsromanen absetzen möge (dass Helen Väinö Linnas „Der unbekannte Soldat“ aus den fünfziger Jahren liest, ist da nur ein weiterer subtiler Witz). Ihm sei es um die Beschreibung einer „global upper middle class“ gegangen, so Teir, seine Figuren solle man nicht auf eine nationale Identität festlegen können. Um das zu unterstreichen, bindet er Eva zeitweilig in das Umfeld der Londoner Occupy-Bewegung ein und schickt deren Mutter Katriina auf die Philippinen, wo sie Pflegepersonal für finnische Krankenhäuser castet.
Die finnische Literatur ist geprägt von einem konventionellen Realismus.
Teirs „Winterkrieg“ ist einer der herausragenden finnischen Romane in diesem Herbst, Verweise auf Jonathan Franzen liegen da nahe. Trotzdem fällt auch hier der konventionelle Realismus auf, der die finnische Literatur insgesamt ausmacht. Sprachliche Experimente gibt es nur wenige, kaum ästhetische Eigenheiten, keinen elitären Gestus. Dem Publikum zugewandtes Schreiben ist Trumpf – was wieder historische Ursachen hat. Finnland war Jahrhunderte lang eine Provinz des schwedischen Reichs, bevor es Anfang des 19. Jahrhunderts in die Machtsphäre des Zaren und Russlands geriet. Schwedisch war die bestimmende Sprache, zumindest in den Städten, in Verwaltung und Militär, Wissenschaft und Bildung. Erst 1861 ging die Mehrheit zum Finnischen über, der Sprache des Volkes.
Der erste auf Finnisch geschriebene Roman erschien deshalb erst 1870, Alexis Kivis „Sieben Brüder“ (Jung und Jung, neu übersetzt von Gisbert Jänicke). Mit diesem Roman richtete sich die finnische Literatur von Beginn an primär an die breite Bevölkerung. Ihr stilistischer Zugriff orientiert sich seitdem an der Alltags- und Umgangssprache. Obwohl es in den fünfziger Jahren eine berühmte schwedische Avantgarde gab, bevorzugen auch viele finnland-schwedische Autoren eine volksnahe, naturalistische Schreibweise, steht auch bei ihnen das Verhältnis des Menschen zu seiner Umgebung im Zentrum des Prosageschehens.
Die finnisch-schwedische Autorin Ulla-Lena Lundberg und ihr Roman "Eis"
„Wer einmal die Veränderung in einer Landschaft gesehen hat, sobald ein Schiff ins Blickfeld kommt, wird sich nie mit der Behauptung einverstanden erklären können, dass ein einzelnes Menschenleben ohne Bedeutung ist.“ Mit diesem schönen, programmatischen Satz beginnt die 1947 auf den Åland-Inseln geborene finnland-schwedische Autorin Ulla-Lena Lundberg ihren Roman „Eis“ (Mare, übersetzt von Karl-Ludwig Wetzig), mit dem sie 2012 den Finlandia-Preis gewann.
Lundberg erzählt darin eine Geschichte aus den späten vierziger Nachkriegsjahren. Der junge, enthusiastisch seinem Beruf nachgehende Pfarrer Peter Kummel bekommt eine Stelle auf den Örar-Inseln, wo er mit seiner Frau Mona und Töchterchen Manna hinzieht und auf eine rückständige, der Natur verbundene Gesellschaft trifft. Lundberg beschreibt die Begegnung zweier Welten und wie ein Idyll langsam zerbricht; sie macht das mit einem langen, manchmal auch einem zu langen erzählerischen Atem und einer gewissen stilistischen Schlichtheit. Trotzdem versteht sie es gekonnt, die Zeit in Szene zu setzen, auf kurzem Raum Leben zu erzählen, immer nah an ihren Figuren.
Kjell Westö ist eine Art Stadthistoriker Helsinkis
Als freundlichen Widerpart zu Lindberg lässt sich Kjell Westö verstehen, der gleichfalls zur schwedischsprachigen Minderheit gehört. Mit Romanen wie „Vom Risiko, ein Skrake zu sein“ oder „Wo wir einst gingen“, wurde er nicht nur berühmt, sondern auch eine Art Stadthistoriker von Helsinki. „Helsinki ist immer einer der wichtigsten Protagonisten in meinen Romanen“, sagt er bei einem Treffen in seiner Wohnung in der Cygnaeuksenkatu, Vorderhaus, 5. Stock, nicht weit von der Töölö-Bucht. Läuft man mit ihm durch die Stadt, ist das ein ständiges schnelles Gehen und abruptes Halten, oft macht er auf historische Schauplätze aufmerksam. Oder er erzählt, dass seine Großväter in den Kriegen mit der Sowjetunion gefallen sind. Sein Roman„Trugbild“ (btb, übersetzt von Paul Berf) spielt im Jahr 1938. Was in Europa gerade geschieht, die historischen Zeitläufe beeinflussen auch die Schicksale von Westös Figuren: hier Matilda, eine junge Rechtsanwaltsgehilfin, die als Rote in einem Lager der Weißen vergewaltigt wurde; dort der Anwalt, der sich regelmäßig mit Freunden zum Trinken und Debattieren trifft; die politischen Strömungen, der Antisemitismus, die partielle Sympathie für die Deutschen zerstören die Freundschaften zusehends.
Westös Figuren sind fiktiv, viele der Ereignisse in dem Roman hingegen wahr, mit Auswirkungen bis heute. Westö schildert einen 100-Meter-Lauf, der im Juni 1938 stattfand und bei dem ein jüdischer Läufer als eigentlicher Sieger auf den 4. Platz gestuft wurde. Nach Erscheinen von „Trugbild“ wurden die Resultate nach Hinweisen der Literaturkritik vom finnischen Leichtathletik-Verband korrigiert, der 1976 verstorbene Läufer nachträglich rehabilitiert. Kjell Westö ist stolz darauf.
Obwohl auch er registriert hat, dass Sofi Oksanen der Star der finnischen Literatur ist, sich mit ihr, ihrem Glam und Charisma die Anforderungen an Schriftsteller verändert haben, hat er in seinem Roman lieber der größten Autorin Finnlands des 20. Jahrhunderts ein Denkmal gesetzt: Tove Jansson. Zweimal taucht sie auf, ohne dass ihr Name genannt wird: „Am ehesten ähnelte sie einem Faun. Oder einem scheuen Tier, einem der letzten Exemplare irgendeiner seltenen Art“.